88 Meggendorfer-Blätter, München
Die kleine Aesthetin
— „Es ist doch schändlich, wie man mich so malen
lassen konnte! Diese roten vollen Backen und die
blonde Lockenfülle! Aber das weiß ich, wenn ich
einmal groß bin, verkaufe ich das Bild als Plakat
für eine Kindernährmittelfabrik."
Herr Taucher mit der Klammer
Von
Peker Robinson
„Ludwig Taucher, Goldschmied" steht über dem Geschäfts-
lokal, und diese Aufschrift zieht sich über die ganze Breite
des Äauses. Aber von Breite kann man eigentlich nicht
recht sprechen, denn es ist eben recht schmal wie alle die
alten, dafür aber hohen Läuser um den Marktplatz der
Stadt herum, der vor hundert Iahren schon gerade so aus-
gesehen hat. Mit wenigen kleinen Veränderungen nur, denn
das Kinotheater, das jetzt linker Land vom Rathause mit
großem Erfolg betrieben wird, war vor hundert Iahren
natürlich noch nicht da. Auch die elektrische Beleuchtung
hatte der Marktplatz damals selbstverständlich noch nicht.
Wir haben es heutzutage eben doch viel besser.
Im Iahre 1860 hatte das
Laus die Aufschrift bekommen.
Da hatte Ludwig Taucher senior
sich darin selbständig gemacht,
nachdem er fünfzehn Iahre lang
die Goldschmiedekunst in anderer
Leute Diensten ausgeübt hatte.
Ludwig Tauchers Vater war
Segelmachermeister gewesen,
und vom Großvater hieß es,
daß er als Reepschläger aus
Bremen zugcwandert wäre.
Weiter hinauf aber gingen die
Aeberlieferungen der Familie
nicht. Ludwig Taucher des Ael-
teren Sohn, der jehige Inhaber,
konnte beim besten Willen und
größterMühe nicht mehr heraus-
bekommen. Nun, das macbt ja
nichts; das geht vielen Leuten so.
Ein Iabr, nachdem er in
dasLaus amMarktplatz gezogen,
hatte Ludwig Taucher ber Ael-
tere geheiratet. Es war eine
von den Leiraten gewesen, über
die jene Leute, die dazu da sind,
die Lebensläufe ihrer Mikbürger
wie der Chor in der griechischen
Tragödie mit weisen Anmerkun-
gen zu begleiten, die Lände über
dem Kopf zusammenzuschlagen
pflegen. Karoline Domanski
hieß sie, aber als 6Iairs 6« I»
Ross hatte sie auf dem Pro-
gramm des Friedrich-Theaters
gestanden. Das Programm um-
faßte damalssechzehnNummern,
und sie war die erste: Olairs äs
la Ross, französische Liedersän-
gerin. Nun, man weiß, die erste
Nummer im Spezialitätcn
tcr bedeutet meist nichts
deres. Es ist gerade so wie km
Leben: viele, die da eine erste
Nummer bekommen, leisten doch
nichts Gescheites. Nach vierzehn
Tagen, wie das so gebräuchlich
ist, war sie vom Programm
wieder verschwunden. Aber ab-
gereist, wie sie das nach den
Verpflichtuugen dem Agenten
gegenüber hätte tun müssen, war sie nicht. Ludwig Taucher,
der aufblühende Goldwarenhändler, hatte sie auf das Pro-
gramm seines Lebens gesetzt, und da war sie nicht so schnell
wieder zu streichen. O nein, sie hielt sich, bis der Vorhang
über der Vorstellung, die Ludwig Taucher hier auf der
Welt gab, endgiltig gefallen war.
Iene Leute, die ihre Lände über dem Kopf zusammen-
geschlagen hatten, behaupteten, Karoline Taucher, geborene
Domanski, müßte jeden Tag auf den Knien dem Limmel
danken, daß er sie aus einem unsichcren Wanderdasein in
ein solch solides Laus geführt hatte. Daran dachte sie aber
nicht im geringsten. Im Gegenteil: eher war sie der Mei-
nung, Ludwig Taucher müßte derjenige sein, der zu danken
hätte. Denn man bekommt nicht alle Tage eine französi-
Die kleine Aesthetin
— „Es ist doch schändlich, wie man mich so malen
lassen konnte! Diese roten vollen Backen und die
blonde Lockenfülle! Aber das weiß ich, wenn ich
einmal groß bin, verkaufe ich das Bild als Plakat
für eine Kindernährmittelfabrik."
Herr Taucher mit der Klammer
Von
Peker Robinson
„Ludwig Taucher, Goldschmied" steht über dem Geschäfts-
lokal, und diese Aufschrift zieht sich über die ganze Breite
des Äauses. Aber von Breite kann man eigentlich nicht
recht sprechen, denn es ist eben recht schmal wie alle die
alten, dafür aber hohen Läuser um den Marktplatz der
Stadt herum, der vor hundert Iahren schon gerade so aus-
gesehen hat. Mit wenigen kleinen Veränderungen nur, denn
das Kinotheater, das jetzt linker Land vom Rathause mit
großem Erfolg betrieben wird, war vor hundert Iahren
natürlich noch nicht da. Auch die elektrische Beleuchtung
hatte der Marktplatz damals selbstverständlich noch nicht.
Wir haben es heutzutage eben doch viel besser.
Im Iahre 1860 hatte das
Laus die Aufschrift bekommen.
Da hatte Ludwig Taucher senior
sich darin selbständig gemacht,
nachdem er fünfzehn Iahre lang
die Goldschmiedekunst in anderer
Leute Diensten ausgeübt hatte.
Ludwig Tauchers Vater war
Segelmachermeister gewesen,
und vom Großvater hieß es,
daß er als Reepschläger aus
Bremen zugcwandert wäre.
Weiter hinauf aber gingen die
Aeberlieferungen der Familie
nicht. Ludwig Taucher des Ael-
teren Sohn, der jehige Inhaber,
konnte beim besten Willen und
größterMühe nicht mehr heraus-
bekommen. Nun, das macbt ja
nichts; das geht vielen Leuten so.
Ein Iabr, nachdem er in
dasLaus amMarktplatz gezogen,
hatte Ludwig Taucher ber Ael-
tere geheiratet. Es war eine
von den Leiraten gewesen, über
die jene Leute, die dazu da sind,
die Lebensläufe ihrer Mikbürger
wie der Chor in der griechischen
Tragödie mit weisen Anmerkun-
gen zu begleiten, die Lände über
dem Kopf zusammenzuschlagen
pflegen. Karoline Domanski
hieß sie, aber als 6Iairs 6« I»
Ross hatte sie auf dem Pro-
gramm des Friedrich-Theaters
gestanden. Das Programm um-
faßte damalssechzehnNummern,
und sie war die erste: Olairs äs
la Ross, französische Liedersän-
gerin. Nun, man weiß, die erste
Nummer im Spezialitätcn
tcr bedeutet meist nichts
deres. Es ist gerade so wie km
Leben: viele, die da eine erste
Nummer bekommen, leisten doch
nichts Gescheites. Nach vierzehn
Tagen, wie das so gebräuchlich
ist, war sie vom Programm
wieder verschwunden. Aber ab-
gereist, wie sie das nach den
Verpflichtuugen dem Agenten
gegenüber hätte tun müssen, war sie nicht. Ludwig Taucher,
der aufblühende Goldwarenhändler, hatte sie auf das Pro-
gramm seines Lebens gesetzt, und da war sie nicht so schnell
wieder zu streichen. O nein, sie hielt sich, bis der Vorhang
über der Vorstellung, die Ludwig Taucher hier auf der
Welt gab, endgiltig gefallen war.
Iene Leute, die ihre Lände über dem Kopf zusammen-
geschlagen hatten, behaupteten, Karoline Taucher, geborene
Domanski, müßte jeden Tag auf den Knien dem Limmel
danken, daß er sie aus einem unsichcren Wanderdasein in
ein solch solides Laus geführt hatte. Daran dachte sie aber
nicht im geringsten. Im Gegenteil: eher war sie der Mei-
nung, Ludwig Taucher müßte derjenige sein, der zu danken
hätte. Denn man bekommt nicht alle Tage eine französi-