Zeitschrift für Humor und Kunst
20Z
Lustige Geschichten
— ,,So? Lustige Geschichte» »nißt ihr i» der Schule er-
zählen, Poldl? Wcistt denn du auch eine?"
„O ja, Frau Tant! Ich erzähl immer die, wo Sie da-
mals mit der Lampe über die Stiegen 'nunter g'fallen sind."
Sinkenbring und die Granate
überhaupt und für immer mit seiner Arbeit Schluß machen
würde.
Im Anfang, so in den ersten Iahren, hatte Sinken-
bring auch wahrhaftig seine Blicke sörmlich an das Thermo-
meter geschmiedet und das Klettern der Quecksilbersäule so
ängstlich verfolgt wie ein Baissespekulant vor Mimo das
Steigen seiner Effekten. Aber später liest er wohl manchmal
die Augen ein wenig wandern; die Geschichte wurde ja sonst
gar zu langweilig. Man könnte geneigt sein, dies der Ge-
wohnheit zuzuschreiben, die ja fiir so vieles, was nicht sein
soll, verantwortlich ist. Doch so war das nicht; die Gewohn-
heit hatte zwar etwas, aber doch nicht in der Lauptsache
damit zu tun. Das Gefühl war es bei Leinrich Sinkenbring.
Mit dem Thermometer war das ja eine ganz schöne Sache.
Aber ein alter kundiger Arzt sieht ja den Mestapparat auch
nicht immer an, besonders wenn er die Konstitulion eines
Patienten schon gut kennt. Das brodelnd werdende Nitro-
glyzerin i» der Bleiwanne war sür Sinkenbring so ein Pa-
tient, mit dessen Zustand er bis in die letzte» Nervenfasern
vertraut war. Er fühlte ihn mit.
So, ein bißchen können wir ihm
noch geben, das kann er noch gut
gebrauchen! Wie geht es jetzt,
alter Iunge? Noch ein paar
Tropfen, nicht wahr! So, immer
hübsch sacht, wir wiffe» schon,
was sich gehört. Lalt, jetzt hat
er genug. Lalt!
Andwenn Sinkenbring dann
nach dem Thermometer sah, dann
stimmte es. Aber ganz genau.
Abseits von den herkömmlichen
fünf Sinnen, die überhaupt fllr
eine einigermaßen anständige
Eristenz nicht recht ausreichen,
hatte Sinkenbring eben mit der
Zeit so eine Art Aebertragung
erworben zwischen sich und dem
gebannten unheimlichen Leben in jenen starken und
doch sehr launenhaften Fliissigkeiten. Genau so wie
ein geschickter Tierbändiger einer Bestie den Nücken
kehrt und doch genau weiß, ob sie noch ruhig da liegt
oder schvn sich zum Sprunge anschickt.
Dies sorgsam achtgebende Gefühl schien bei
Sinkenbring auch dann zu arbeiten, wenn es sich gar
nicht um die Flüssigkeiten handelte, die seine Spezia-
lität waren, sonder» etwa um die festeren Spreng-
stoffe, die seinem Arbeitsgebiet fern lagen. Einmal
hatten sie ihn zur Aushilfe an die Preffe geschickt.
Pagels hieß der Kollege, der die Preffe bediente,
einen vortrefflichen Apparat, der Schießbaumwolle mit
mehreren hundert Atmosphären Druck bearbeitete.
Aus einer große» langen Rolle Schießbaumwolle
konnte er ein kleines Plättchen machen, bequem in
der flachen Land zu halten. Die Schießbaumwolle
lehnte sich in der Regel gar nicht dagegen auf. Aber
sie ist doch auch wie ein Mensch, der niedergedrückt
und systematisch klein gemacht wird. Den tüchtigsten
Druck läßt er sich gefallen, aber dann wieder, wenn
er nur ein kleines bißchen gequetscht wird, springt
er ganz unvermutet aus und widersetzt sich. Wer auf
Menschen drückt, muß mit solchen Launen rechnen.
Er muß ste spüren können, um dann schnell elwas
Lust zu geben, bis die innerliche Anruhe stumpfer
Gleichgültigkeit Platz gemacht hat und dann noch einmal
so tüchtig gedrückt werden kann.
Sinkenbring hatte damals ganze zchn Meter von der
Presse entfernt gestanden und überhaupt gar nicht hingesehn.
Und doch hatte er auf einmal ganz genau gewußt: Lalt, in
zwei Sekunden geht es los! Gerade hatte er noch Pagels,
der an der Presse hantierte und nichts ahnte, denn die
Geschichte hatte erst fünfzig Atmosphären Druck, durch das
Signal zu sich rufen können, da hatten sie auch schon den
schönen blauen Limmel über sich sehen können. Das ganze
Dach war glatt in die Luft geflogen. Pagels und Sinkenbring
war nichts geschehen. Die dicke Netzwand aus starken Tauen
hatte sie geschützt, die um solch eine Presse wie eine Lülse
aufgestellt ist. Oben ist sie offen, damit alles, was sich jäh
in Bewegung setzen möchte, nur in die Löhc fliegen kann.
Pagels hatte danach am Abend Sinkenbring zwei Gläser
Bier spendiert. und damit ivar die Sache erledigt gewesen.
In seinem Militärpaß hatte Leinrich Sinkenbring den
Befehl, am fünften Tage der Mobilmachung an Ort und
Stelle zu sein. Dieser fünfte Tag war der sechste August
1914, wie ja wohl jeder wiffen
wird. Aber natürlich verlangte
man ganz und gar nicht von
Einkenbring, daß er mit mar-
schierte. Sinkenbring war iinab-
kömmlich. Wenn jetzt ein Mensch
bei seiner Arbeit gebraucht wur-
de, dann war er es. Nicht genug
Ueberstunden hätte er machen
können bei seinem feinen Druek-
luftgebläse,dasdiehübschenPer-
len in der flachcn Bleiwanne
hervorrief.
Doch Sinkenbring wollte
nicht. Er hatte auf einmal keine
Lust mehr, Glyzerin zu spritzen.
Er miißte mit. Die Direktion
tatzwas sie sonst niegetan hätte:
sie bat Lerrn Sinkenbring, doch
„Wenn nur endlich einer anbeißen wollte."
— „Aber Melanie. Du bist doch schon verlobt!"
20Z
Lustige Geschichten
— ,,So? Lustige Geschichte» »nißt ihr i» der Schule er-
zählen, Poldl? Wcistt denn du auch eine?"
„O ja, Frau Tant! Ich erzähl immer die, wo Sie da-
mals mit der Lampe über die Stiegen 'nunter g'fallen sind."
Sinkenbring und die Granate
überhaupt und für immer mit seiner Arbeit Schluß machen
würde.
Im Anfang, so in den ersten Iahren, hatte Sinken-
bring auch wahrhaftig seine Blicke sörmlich an das Thermo-
meter geschmiedet und das Klettern der Quecksilbersäule so
ängstlich verfolgt wie ein Baissespekulant vor Mimo das
Steigen seiner Effekten. Aber später liest er wohl manchmal
die Augen ein wenig wandern; die Geschichte wurde ja sonst
gar zu langweilig. Man könnte geneigt sein, dies der Ge-
wohnheit zuzuschreiben, die ja fiir so vieles, was nicht sein
soll, verantwortlich ist. Doch so war das nicht; die Gewohn-
heit hatte zwar etwas, aber doch nicht in der Lauptsache
damit zu tun. Das Gefühl war es bei Leinrich Sinkenbring.
Mit dem Thermometer war das ja eine ganz schöne Sache.
Aber ein alter kundiger Arzt sieht ja den Mestapparat auch
nicht immer an, besonders wenn er die Konstitulion eines
Patienten schon gut kennt. Das brodelnd werdende Nitro-
glyzerin i» der Bleiwanne war sür Sinkenbring so ein Pa-
tient, mit dessen Zustand er bis in die letzte» Nervenfasern
vertraut war. Er fühlte ihn mit.
So, ein bißchen können wir ihm
noch geben, das kann er noch gut
gebrauchen! Wie geht es jetzt,
alter Iunge? Noch ein paar
Tropfen, nicht wahr! So, immer
hübsch sacht, wir wiffe» schon,
was sich gehört. Lalt, jetzt hat
er genug. Lalt!
Andwenn Sinkenbring dann
nach dem Thermometer sah, dann
stimmte es. Aber ganz genau.
Abseits von den herkömmlichen
fünf Sinnen, die überhaupt fllr
eine einigermaßen anständige
Eristenz nicht recht ausreichen,
hatte Sinkenbring eben mit der
Zeit so eine Art Aebertragung
erworben zwischen sich und dem
gebannten unheimlichen Leben in jenen starken und
doch sehr launenhaften Fliissigkeiten. Genau so wie
ein geschickter Tierbändiger einer Bestie den Nücken
kehrt und doch genau weiß, ob sie noch ruhig da liegt
oder schvn sich zum Sprunge anschickt.
Dies sorgsam achtgebende Gefühl schien bei
Sinkenbring auch dann zu arbeiten, wenn es sich gar
nicht um die Flüssigkeiten handelte, die seine Spezia-
lität waren, sonder» etwa um die festeren Spreng-
stoffe, die seinem Arbeitsgebiet fern lagen. Einmal
hatten sie ihn zur Aushilfe an die Preffe geschickt.
Pagels hieß der Kollege, der die Preffe bediente,
einen vortrefflichen Apparat, der Schießbaumwolle mit
mehreren hundert Atmosphären Druck bearbeitete.
Aus einer große» langen Rolle Schießbaumwolle
konnte er ein kleines Plättchen machen, bequem in
der flachen Land zu halten. Die Schießbaumwolle
lehnte sich in der Regel gar nicht dagegen auf. Aber
sie ist doch auch wie ein Mensch, der niedergedrückt
und systematisch klein gemacht wird. Den tüchtigsten
Druck läßt er sich gefallen, aber dann wieder, wenn
er nur ein kleines bißchen gequetscht wird, springt
er ganz unvermutet aus und widersetzt sich. Wer auf
Menschen drückt, muß mit solchen Launen rechnen.
Er muß ste spüren können, um dann schnell elwas
Lust zu geben, bis die innerliche Anruhe stumpfer
Gleichgültigkeit Platz gemacht hat und dann noch einmal
so tüchtig gedrückt werden kann.
Sinkenbring hatte damals ganze zchn Meter von der
Presse entfernt gestanden und überhaupt gar nicht hingesehn.
Und doch hatte er auf einmal ganz genau gewußt: Lalt, in
zwei Sekunden geht es los! Gerade hatte er noch Pagels,
der an der Presse hantierte und nichts ahnte, denn die
Geschichte hatte erst fünfzig Atmosphären Druck, durch das
Signal zu sich rufen können, da hatten sie auch schon den
schönen blauen Limmel über sich sehen können. Das ganze
Dach war glatt in die Luft geflogen. Pagels und Sinkenbring
war nichts geschehen. Die dicke Netzwand aus starken Tauen
hatte sie geschützt, die um solch eine Presse wie eine Lülse
aufgestellt ist. Oben ist sie offen, damit alles, was sich jäh
in Bewegung setzen möchte, nur in die Löhc fliegen kann.
Pagels hatte danach am Abend Sinkenbring zwei Gläser
Bier spendiert. und damit ivar die Sache erledigt gewesen.
In seinem Militärpaß hatte Leinrich Sinkenbring den
Befehl, am fünften Tage der Mobilmachung an Ort und
Stelle zu sein. Dieser fünfte Tag war der sechste August
1914, wie ja wohl jeder wiffen
wird. Aber natürlich verlangte
man ganz und gar nicht von
Einkenbring, daß er mit mar-
schierte. Sinkenbring war iinab-
kömmlich. Wenn jetzt ein Mensch
bei seiner Arbeit gebraucht wur-
de, dann war er es. Nicht genug
Ueberstunden hätte er machen
können bei seinem feinen Druek-
luftgebläse,dasdiehübschenPer-
len in der flachcn Bleiwanne
hervorrief.
Doch Sinkenbring wollte
nicht. Er hatte auf einmal keine
Lust mehr, Glyzerin zu spritzen.
Er miißte mit. Die Direktion
tatzwas sie sonst niegetan hätte:
sie bat Lerrn Sinkenbring, doch
„Wenn nur endlich einer anbeißen wollte."
— „Aber Melanie. Du bist doch schon verlobt!"