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106 Meggendorser-Blätter, München

Angeduld Vater: „Geht mal zum Schlächter und holt mir sür zwanzig Pfennig Wurst!"

Die Kinder: „Dürfen wir uns die Äaut unterwegs fchon abziehen, Vater?"

Falsche Taktik

Als der Sohn das sechzehnte Iahr erreicht hatte, meinte
Madame Piscot, daß nun auch etwas für seine Zukunft
getan werden müßte, nicht allein durch ausgiebige Sparsam-
keit, die seinen dereinstigen Besttz an Rententiteln ver-
größerte, sondern auch durch Wahl eines vernünftigen
Berufes. Es ist eine leichtbegreifliche Tatsache, daß geizige
Leute die besten Erwerbsmöglichkeiten in der Spekulation
auf das Gegenteil des Geizes sehn. Marcel sollte sich einer
dem Lurus- und dem Wohlleben dienenden Branche widmen.
Es fand sich, daß Monsieur Bertrand, Fabrikant feiner
Landschuhe, einen Lehrling für sein Kontor suchte, der
darin, wenn er sich gut anließ, zu den höchsten Ehrenstellen
aussteigen konnte. Feine Landschuhe galten Madame Piscot
als Lurus — sie trug nur selbstgestrickte, und da Monsteur
Bertrand nicht nur viel für die Zukunft versprach, sondern
sogar gleich von Anbeginn der Lehrzeit eine kleine Ver-
gütung bewilligte, wurde also Marcel zu ihm getan.

Monsieur Bertrands Kontor befand sich in der Rue
d'Allemagne, an ihrem östlichen Ende, wo der Viehhof und

die Schlachthöfe liegen.
Dorthin war es von
dcr Nue Cardinet ein
ganz gewaltiger Weg,
aber Marcel mußte ihn
trotzdem zu Fuß macben,
denn die Stiefelsohlen
kosteten schließlich doch
weniger, als das Fahr-
geld ausgemacht hätte,
und auf die Zeit kam
es nicht an. Zeit soll
Geld sein, aber das
glauben geizige Leute
seltcn. „!lnd außerdem
ist cs dir sehr gesund,
wenn du gehst, mein
Iunge," sagte Madame
Piscot. Etwas, das
ihm gesund war, konnte
Marcel freilich auch
sehr gut gebrauchen,
denn er war mittler-
weile doch etwas in die
Löhe geschossen, wo-
durch sich der Mangel
an Muskelfleisch — an
Fett war natürlich gar
nichtzu denken - immer
erschreckendcr heraus-
bildete.

Marcel bcwegte sich
jetzt also täglich, mit
Ausnabme der Sonn-
tage, zwischen zwei für
die Ernährung der
Pariser sehr wichtigen
Stätten,und dies mochte
dazu beitragen, daß der
an und für sich schon
in reichem Maße vor-
handene Reizzustand
seiner Magemvände
schließlich beinahe un-
erträglich wurde. Als
er zum erstenmal die zugesagte kleine Vergütung von
zehn Francs pro Monat erhalten hatte, ein prächtiges
Goldstückchen, ging er nicht gleich nach Lause. Nein,
Marcel kehrte ein, — in einem Bouillon Duval, und die
Rechnung betrug drei Francs zehn Centimes.

Beinahe wären die Nachbarn zusammengelaufen, so
sehr schrie Madame Piscot. Sie schaute in eine düstere
Zukunft. Dahin waren die schönen Rententitel, die der
selige Piscot und sie selbst zusammengespart hatten, ver-
schlungen waren sie, buchstäblich verschlungen. Aufgefressen
waren sie von einem Schwelger, Praffer, Schlemmer. And
der war ihr Sohn, ihr entarteter Sohn Marcel.

Der Iunge ließ die Mutter sich austoben. Er fühlte
sich jetzt selbständig, und etwas von oben herab erklärte er,
er wollte auch etwas von seinem selbstverdienten Gelde
haben. Der Mensch lebte nur einmal, und das Lunger-
dasein hätte er jeht satt. — Dieser letzte Sah klang wider-
spruchsvoll.

Da aber spielte Mutter Piscot einen Trumpf aus.
„Du bist ein Dummkopf, mein Iunge," sagte sie, auf einmal
 
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