8 Meggendorfer-Blätter, München
Genau Wirt: „Ah, wie ich sehe, sind die Lerrichaften schon beim Verdauungsschläfchen."
Gast: „Allerdings, aber ich bekomme erst noch meine Nachspeise."
Der Iunge mit dem Holzbein Von Richarv Rieß
Das Kaffeehaus lag in einem Garten, der manche Lust-
barkeit bot, Erwachsenen wie Kindern. Luftschaukeln war-
teten dort des Vergnügens, ein Karussell auch, das stumpf
in der Sonne hockte, träge, in seiner letzten Gebärde erstarrt,
und eine grell gemalte Welt bot williges Ziel dem Schieß-
budenschützen.
Darüber war heute ein fröhlicher Limmel gespannt,
blau und maienhaft, und von der freundlichen Frühsommer-
sonne her wehte die Luft Wärme und kosendes Behagen.
Der Kaffeehauswirt hatte seine fchönsten gelben Tische
hervorgeholt und die gefälligen Sessel mit den breiten
Lehnen, daß sie die Vorübergehenden einlüden. Vor dem
Äause standen sie „schirmend" wie Soldaten vor dem Bi-
wak, und Gäste bevölkerten sie: Damen in weiß und bunt
und seldgraue kreuzgeschmückte Krieger.
Oft wurden Sammlerinnen in den Reihen der Tische
sichtbar, und ihre roten Büchsen erklapperten sich manche
Gabe der kriegszeitgemäßen Barmherzigkeit. Auch Frauen
mit Näschereien kamen, Ländlerinnen, und Buben, die
Blumen feilboten, durchpirschten die Wege des Gartens.
Ganz vorn, in der Neihe, die die Front gegen den
Kiesweg bildete, saßen in schwarzen Kapuzen zwei alte
Damen. Ihre Gesichter, die einander greisenhaft ähnelten,
waren von den Wogen des Lebens in schier gleichen Wegen
durchfurcht. Schwestern waren es, zweifellos. Ihre Lände,
deren Skelette eine fett-saltige Laut umkleidete, hielten
emsige Stricknadeln, die nur selten ruhten: wenn es galt
die Kaffeetassen, zittrig, zum Munde zu führen und müh-
sam den Zwetschgenkuchen zu gabeln, den man zwischen
die sabbrig überschwemmten Lippen schob. Dabei sprachen
ste von dem kleinen Begeben, das stch im Kreise ihrer
Augen vollzog. Plötzlich sagte Frau Albertinchen: „Guck
mal, dort ist auch wieder der Iunge mit dem Lolzbein!"
„Wo denn?" fragte Frau Selma, erregt-interessiert,
und blinzelte nach allen Seiten.
„Nun dort, vor der Moment-Photographie! Du stehst
aber auch schon garnichts mehr, Kind, und bist doch dabei
noch nicht einmal fünfundsechzig."
„Spiel dich, bitte, gefälligst nicht auf, weil du die Aeltere
bist. Pah! üeberhaupt sehe ich ihn schon!"
„Er stand gestern genau an derselben Stelle," stellte
Tinchen fest, und dann meinte sie nachdenklich: „Es ist doch
sonderbar, daß der Iunge, so jung noch, schon ein Lolz-
bein hat."
„Du sollst ihn nicht bemitleiden," erwiderte Selma.
„Er ist flinker als alle die andern Kinder. Ich habe ihn
schon neulich einmal gesehen, als du bei deiner kleinen
Schwägerin eingeladen warst. Da habe ich gesehen, daß
er flinker ist, als alle die anderen. Flinker und hurtiger,
Tinchen, und der Wildesten einer. Vielleicht hat er gerade
deshalb sein Bein verloren!"
„Du meinst als Strafe für seine Wildheit und Unge-
zogenheit. Das wäre aber eine harte Strafe."
„Nun, man hat schon dergleichen erlebt."
„Mir würde er leidtun," schloß Tinchen und schnalzte im
Munde, indem sie mit der Zungenspitze die Reste des
Kuchens aus den Verborgenheiten ihres Gebisses suchte.
Selma aber tröstete sich über ihr Mitleid und sagte:
„Mein Neffe Woldemar hat übrigens auch ein Lolz-
bein, aber er hat es sich auf ehrbare Weise erworben, im
Kampfe fürs Vaterland. Nur sehr teuer ist es. Doch,
man sieht es kaum beim Gehen, so gut gearbeitet ist es."
Genau Wirt: „Ah, wie ich sehe, sind die Lerrichaften schon beim Verdauungsschläfchen."
Gast: „Allerdings, aber ich bekomme erst noch meine Nachspeise."
Der Iunge mit dem Holzbein Von Richarv Rieß
Das Kaffeehaus lag in einem Garten, der manche Lust-
barkeit bot, Erwachsenen wie Kindern. Luftschaukeln war-
teten dort des Vergnügens, ein Karussell auch, das stumpf
in der Sonne hockte, träge, in seiner letzten Gebärde erstarrt,
und eine grell gemalte Welt bot williges Ziel dem Schieß-
budenschützen.
Darüber war heute ein fröhlicher Limmel gespannt,
blau und maienhaft, und von der freundlichen Frühsommer-
sonne her wehte die Luft Wärme und kosendes Behagen.
Der Kaffeehauswirt hatte seine fchönsten gelben Tische
hervorgeholt und die gefälligen Sessel mit den breiten
Lehnen, daß sie die Vorübergehenden einlüden. Vor dem
Äause standen sie „schirmend" wie Soldaten vor dem Bi-
wak, und Gäste bevölkerten sie: Damen in weiß und bunt
und seldgraue kreuzgeschmückte Krieger.
Oft wurden Sammlerinnen in den Reihen der Tische
sichtbar, und ihre roten Büchsen erklapperten sich manche
Gabe der kriegszeitgemäßen Barmherzigkeit. Auch Frauen
mit Näschereien kamen, Ländlerinnen, und Buben, die
Blumen feilboten, durchpirschten die Wege des Gartens.
Ganz vorn, in der Neihe, die die Front gegen den
Kiesweg bildete, saßen in schwarzen Kapuzen zwei alte
Damen. Ihre Gesichter, die einander greisenhaft ähnelten,
waren von den Wogen des Lebens in schier gleichen Wegen
durchfurcht. Schwestern waren es, zweifellos. Ihre Lände,
deren Skelette eine fett-saltige Laut umkleidete, hielten
emsige Stricknadeln, die nur selten ruhten: wenn es galt
die Kaffeetassen, zittrig, zum Munde zu führen und müh-
sam den Zwetschgenkuchen zu gabeln, den man zwischen
die sabbrig überschwemmten Lippen schob. Dabei sprachen
ste von dem kleinen Begeben, das stch im Kreise ihrer
Augen vollzog. Plötzlich sagte Frau Albertinchen: „Guck
mal, dort ist auch wieder der Iunge mit dem Lolzbein!"
„Wo denn?" fragte Frau Selma, erregt-interessiert,
und blinzelte nach allen Seiten.
„Nun dort, vor der Moment-Photographie! Du stehst
aber auch schon garnichts mehr, Kind, und bist doch dabei
noch nicht einmal fünfundsechzig."
„Spiel dich, bitte, gefälligst nicht auf, weil du die Aeltere
bist. Pah! üeberhaupt sehe ich ihn schon!"
„Er stand gestern genau an derselben Stelle," stellte
Tinchen fest, und dann meinte sie nachdenklich: „Es ist doch
sonderbar, daß der Iunge, so jung noch, schon ein Lolz-
bein hat."
„Du sollst ihn nicht bemitleiden," erwiderte Selma.
„Er ist flinker als alle die andern Kinder. Ich habe ihn
schon neulich einmal gesehen, als du bei deiner kleinen
Schwägerin eingeladen warst. Da habe ich gesehen, daß
er flinker ist, als alle die anderen. Flinker und hurtiger,
Tinchen, und der Wildesten einer. Vielleicht hat er gerade
deshalb sein Bein verloren!"
„Du meinst als Strafe für seine Wildheit und Unge-
zogenheit. Das wäre aber eine harte Strafe."
„Nun, man hat schon dergleichen erlebt."
„Mir würde er leidtun," schloß Tinchen und schnalzte im
Munde, indem sie mit der Zungenspitze die Reste des
Kuchens aus den Verborgenheiten ihres Gebisses suchte.
Selma aber tröstete sich über ihr Mitleid und sagte:
„Mein Neffe Woldemar hat übrigens auch ein Lolz-
bein, aber er hat es sich auf ehrbare Weise erworben, im
Kampfe fürs Vaterland. Nur sehr teuer ist es. Doch,
man sieht es kaum beim Gehen, so gut gearbeitet ist es."