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Zeitschrift für Humor und Kunst <X>0<>0-2-r-(>2<r-2^ 187

— „Ia,was hast du denn da mit meinen Weihnachtszigarren angefangen?"

— „Ein Kriegsschiff habe ich gemacht. Paß auf, gleich wird's losgehen."

Lannchens Weihnachtsgeschenk
antwortet wurde, konnte Iohanna Stobbe
zuerst gar nicht verstehn. Eine Anterschrift
mußte sie geben, und sie wunderte sich, daß
der Lerr, der diese Angelegenheit zu erledigen
hatte, nicht einfach diese tlnterschrift selbst
übernahm, und daß er dann nicht genau be-
stimmte, wann und wieviel Geld jedesmal
sie abheben follte und was sie dafür kaufen
durfte.

Die Wohnung bei Bäckermeister Enderut
war jetzt erst recht ein großes Glück für Lann-
chen Stobbe. Bäckermeister Enderut hätte sie
steigern können. Das Doppelte hätte er ver-
langen können, und Lannchen hätte es bezahlt
und noch geglaubt, sie hätte dafür dankbar
zu sein. Er tat es aber nicht, und das kann
ihm zur Ehre angerechnet werden, wenn auch
manche Leute finden mögen, es sei eine große
Dummheit von ihm gewesen. Wenn Lannchen
Stobbe nicht das Fenster mit der Aussicht
aus den weißen Stein gehabt hätte, wäre sie
sicher in der ersten Zeit den ganzen Tag auf
dem Kirchhof gewesen, und da damals gerade
ein sehr kalter Winter war, wäre ihr das viel
leicht schlecht bekommen. So aber konnte sie
doch wenigstens im warmen Zimmer sitzen,
immer auf dem Platz am Fenster, wo sie Lun-
ger und Durst vergeffen hätte, wenn nicht Frau
Enderut, die übrigens ihrem Manne, selbst wenn er gewollt,
das Steigern gar nicht erlaubt hätte, gekommen wäre und
gesagt hätte: „Ietzt kommen Sie aber einen Lappen bei
uns essen, Fräulein Lannchen. Effen muß der Mensch
nun mal, und das ist auch gut, denn sonst könnten wir ja
nicht mit unserer Bäckerei bestehen."

Frau Enderut war es auch, die ihr die ersten Tagesplätze
für ihre Flickschneiderei besorgte und nicht mehr erlauben
wollte, daß Lannchen die Arbeit ins Laus nahm. Sie
hatte recht damik; es bekam Lannchen sehr gut, daß sie
etwas mehr unter die Leute kam. Da gab es doch etwas
zu reden und manchmal auch etwas zu lachen, und Iohanna
Stobbe redete ein bißchen mit, und schließlich lachte sie
auch ein bißchen mit, wenn sie auch die ersten Male ordent-
lich darüber erschrak, als hätte sie etwas Anrechtes getan,
und so gewöhnte sie sich mit der Zeit in ihr neues Leben
schüchterner Selbständigkeit ein. Ihr erfter Blick aber am
Morgen und der letzte am Abend galt immer dem weißen
Stein auf dem Friedhof; sie mußte, wie einst als Kmd,
den Eltern den Gutenmorgengruß und den Gutenacht-
wunsch bringen; ohne den einen hätte ste ihr Tagewerk
nicht beginnen und ohne den andern nicht einschlafen können.
Am schönsten aber waren die klaren Abende mit Mond-
schein, wenn der Stein so deutlich zu sehen war, als säße
sie dicht dabei. Dann blieb sie oft noch eine ganze Stunde
am Fenster sitzen, und ihr war, als hielten ste die Eltern
an den Länden. Dann war ste beinahe so zufrieden, wie
sie es zu sein gedachte, wenn einmal der Stein die dritte
und letzte Aufschrift bekam: Iohanna Stobbe.

Die kleine Stadt war in den ersten Augusttagen 1914
in großer Aufregung- Denn sie liegt in jenen Bezirken
des Ostens, wo man damals ganz besonderen Grund hatte,
aufgeregt zu sein. Lerr Amtsrichter Schaeffer war anderer
Meinung als seine Frau: sie sollte abfahren, so schnell wie
möglich; er aber wollte bleiben, — wenigstens so lange

wie möglich, denn er gehörte aufs Gericht. Frau Schaeffer
aber verlangte, ihr Gatte sollte mitkommen; auf das Gericht
käme es gar nicht an, denn jetzt würde in dieser Gegend
sehr bald Gewalt vor Recht gehen. Die Streitfrage wurde
aber sehr bald dadurch gelöst, daß das Amtsgericht die
Anweisung bekam, seine Akten schleunigst recht sicher ein-
zupacken, und somit der Abreise auch des Lerrn Amts-
richters nichts mehr im Wege stand, — wenigstens nach
Westen hin, nach Osten hätte sehr viel im Wege gestanden.
So setzte sich also das Ehepaar auf die Eisenbahn und
fuhr nach Berlin, wo die Schwiegermutter des Lerrn
Amtsrichler wohnte.

Im gleichen Zuge, in der dritten Klasse, fuhr auch
Iohanna Stobbe mit. Die Frau Amtsrichter hatte
sie fast mit Gewalt mitnehmen müssen. „Mir tut doch
keiner was," hatte ste gesagt; „hier bin ich bei meinen
Eltern groß geworden, und von hier gehe ich nicht fort, —
und wenn die ganze Stadt russtsch wird." Darüber aber
war die Frau Amtsrichter ordentlich böse geworden. Lann-
chen sollte froh sein, daß niemand das gehört hätte; das
mit dem russisch werden wäre ja beinahe Landesverrat,
hatte sie gemeint, und danach hatte Iohanna solche Angst
vor Frau Schaeffer bekommen, daß sie alles mit sich ge-
schehen ließ. Die Frau Amtsrichter aber sorgte vortreff-
lich für sie; für geschickte und fieißige Lände gab es jetzt
ja genug zu tun, und so kam Iohanna Stobbe in eine
Nähstube, wo sie für das Rote Kreuz jeden Tag einen
Laufen Arbeit bewältigte. Wäre nicht die viele Arbeit
gewesen, dann wäre Lannchen noch viel unglücklicher ge-
wesen. Ach Gott, Berlin gefiel ihr wirklich nicht. Daraus
kann man ihr keinen Vorwurs machen, das geht auch anderen
Leuten so. Llnd dann, vor allem: der Friedhof fehlle ihr
und der weiße Stein darauf. Wie weit lag der, wie
schrecklich weit! Aus dem Fenstcr, an dem sie jetzt saß,
konnte sie nach Osten sehen, und im Osten lag ja ihre kleine
Stadt, aber ihre Augen trafen nur auf eine graue Gasse
 
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