Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext


88


Meggendorfer-Blätter, München


.





— „Im Zivilberuf ist der Mann Buchhalter mit achtzig
Mark Monatsgehalt!"

— „Na — da kann er keine großen Sprünge machen!"

Das Opfer der Gewinnsucht Von §>ans souinger

Sekretär Alois Schindlbeck betrat seine Amtsstube.
Zunächst hing er den Äut aus den dafür vorgesehenen
dritten Nagel des Kleiderrechens. Dann spannte er seinen
Schirm aus und stellte ihn in die Ecke links vom Fenster.
Nachdem er seinen Rock auf den zweiten Nagel des Kleider-
rechens gehängt hatte, entledigte er sich seines Lemdkragens.
Diesen legte er samt Brettchen, Lalsbinde und Röllchen
in die rechte Schreibtischschublade, zog aber dafür aus der
linken einen kalt waschbaren Dauerkragen und eine auf
zwei Seiten tragbare Deckkrawatte aus lasurblauem und
schlangengrünem Satin hervor. Die in dem Kragen un-
verlöschbar eingestempelte Fabrikmarke: „Rsvsr clirtz." war
mit bester Tusche sorgsältig durchstrichen. Dies geschah aus
Abscheu vor fremdländischen Brocken. Als gewissenhafter
Beamter begnllgte sich aber Schindlbeck damit nicht. Er
hatte vielmehr die Aebersetzung dieser englischen Worte:
„Nie schmutzig" darübergeschrieben und daneben: „f. d. A.
Schindlbeck. „f. d. A." ist eine amtliche Abkürzung und
bedeutet: „für den Abstrich".

Als er dann diese beiden letztgenannten Kleiderstücke,
den immerwährenden Kragen und die Deckkrawatte, angetan
hatte, nahm er von dem ersten Nagel den Bürofrack, zog
ihn an und dazu noch ein Paar Schreibärmel aus schwarzem

Baumwollstoff, die in der linken bezw. der rechten Rock-
tasche von ihrem aufreibenden Dienst ausgeruht hatten.
Nun sperrte Sekretär Schindlbeck die mittlere Schreibtisch-
schublade auf und entnahm ihr einen Sitzfilz, den er auf
den Sessel legte und der die Bestimmung hatte, das allzu-
rasche Durckscheuern der Lose zu verhindern.

Bevor er sich aber nieversetzte, überzeugte er sich noch,
ob der Stuhl über Nacht nicht etwa durch den Lolzwurm,
der in ihm Wohnung genommen hatte, soweit angebohrt
worden war, daß er sein Gewicht nicht mehr tragen konnte.
Glücklicherweise war das nicht der Fall. Darum nahm
Sekretär Schindlbeck Platz und war endlich soweit, daß er
mit der Durchsicht der Morgenzeitung beginnen konnte.

In der Natur Schindlbecks ist es wohl beqründet, daß
er die letzte und nicht die erste Seite der Zeitung zuerst
las. Deswegen fiel sein Blick auch sogleich aus die große
Anzeige, welche fast die ganze letzte Seite einnahm:

„100000

Lunderttausend Probeschachteln
Nervolin!

Amsonst!

Ieder, der uns seine Adreffe schickt, erhält eine Probe
dieses hervorragenden, von den ersten Autoritäten glänzend
begutachteten Nervenheilmittels umsonst und portofrei zu-
geschickt."

Sogleich kam Sekretär Schindlbeck ein großartiger
Gedanke.

Er legte die Zeitung weg und erledigte mit ungewohnter
Last die dringendsten Sachen des Einlaufes, wischle her-
nach aber langsam und sehr sorgfältig seine Schreibfeder
an einem alten Lappen ab und seltete sie zur Verhütung
vorzeitigen Roftens mit einer schon ziemlich von Mäusen
benagten, am Schreibtisch angehängten Speckschwarte ein.
Dann begab er sich zu seinem Büronachbarn.

„Labe die Ehre, gehorsamer Diener, guten Morgen
zu wünschen, Lerr Koll'ga!"

„Morng!"

„Wie steht das werte Befinden, Lerr Koll'ga!"

„Gut! Bei Ihnen? Loffentlich ditlo!"

„Danke! Danke sehr! Iawohl! Geht schon! Bis auf
die Nerven! Die Nerven machen mir halt immer zu schaffen!

Die Nerven, ja die Nerven!-Ia, da wäre ich schon

bei der Sache. Ich hätte Sie nämlich um eine kleine Ge-
fälligkeit gebeten, Lerr Koü'ga!"

„And?"

„Aber ganz unter uns müßte es bleiben! Sie ver-
stehen schon, Lerr Koll'ga!"

„Bin ich ein altes Weib, Lerr Kolläge?"

„Aber ich bitte Sie, Lerr Koll'ga! So was!"

„Also!"

„Ich möchte mir nämlich doch einmal eine Probedose
von dem Nervolin, das heute wieder in der Zeitung aus-
geschrieben ist, schicken lassen. Aber meine Frau ist so
furchtbar ängstlich! Sie wissen ja! Selber so schrecklich
nervös! Wenn da so ein Mittel kommt, meint sie gleich,
daß mir — weiß Gott — was fehlt. Also, Sie verstehen
mich doch, dürfte ich das Mittel nicht an Ihre Adresse
gehen lassen?"

„Von mir aus!"

„Ich wußte es ja, Lerr Koll'ga! Jch kannte ja Jhre
liebenswürdige Bereitwilligkeit. Aber daß es in Kollegen-
kreisen ja nicht bekannt wird. Nicht wahr, nicht bekannt
wird! Ich bin doch schon ziemlich bejahrt, und wenn da
von Nervosität im Zusammenhang mit mir gesprochen wird,
dann denkt man gleich an Pension und so weiter . . ."
 
Annotationen