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Meggendorfer-BläLter, München
Fingerzeig — „Da schau her, a Maus! Da
muß ich morgen früh glei amal an
Keller durchstöbern nach an Speck."
Der Blutegel
lang ausdehnen läßt, wenn sie auch um alles in der Welt
nicht diesen Versuch an ihrem Egel hätte machen und ihn
wie eine Gummistrippe behandeln mögen. Sie las weiter,
daß der Blutegel erst von seinem dritten bis fünften Iahre
an Appetit auf das Blut von Warmblütern bekommt, und
daß er bis zu zwanzig Iahren alt wird. Mit großem Er-
ftaunen aber ließ sie sich belehren, daß in srüheren Iahren
allein in den Kospitälern von Paris jährlich etwa sechs
Millionen Blutegel verbraucht wurden, die gegen hundert-
undsiebzigtausend Pfund Blut genoffen, — also soviel Blut
wie ein kleiner Krieg.
Jene Person aus der Verwandtschaft, die es so gefähr-
lich gefunden hatte, einen Blutegel (diese spöttische Person
sagte natürlich überhebungsvoll Egel und nicht Igel) ans
Äerz gewachsen zu haben, äußerte später noch: Der Blut'
egel bekommt bei Tante Albertine das Gnadenbrot. —
Das war ja auch so ungefähr der Fall. Nur wäre es sehr
angenehm gewesen, wenn der Egel wirklich Brot hätte zu
sich nehmen können. Aber darauf war er nicht eingerichtet;
er brauchte Blut, wie die Weltgeschichte, wenn auch glück-
licherweise nicht so viel. Blut mußte er bekommen, wenn
er am Leben bleiben sollte, und zwar, wie die Frau Oekonomie-
rat gleichfalls aus dem Konversationslexikon erfahren hatte,
etwa alle sechs Monate eine Menge, die ungefähr das
Vierfache seines Gewichtes ausmachte. Als zum erstenmal
die Notwendigkeit der Fütterung nahe trat, entschloß sich
Frau Nogalski, ihn — wie eine Pelikanmutter ihre Iungen
— mit ihrem eigenen Blute zu nähren. Sie war ein kleines,
schmächtiges, blutarmes Persönchen, die Frau Oekonomie-
rat, und hatte jeden Tropfen Blut selbst nötig. Zudem
war sie mit jener körperlichen Eigentümlichkeit behaftet,
die sich manchmal bei schwachen Leuten findet, daß selbft
bei ganz geringen Wunden das Tröpfeln des Blutes nicht
leicht wieder zum Stillstand zu bringen ist. Der Blutegel
hatte, dick und vollgesogen, schon lange losgelaffen und
ruhte sich in seinem Topf von der reichlichen Mahlzeit aus,
aber die kleine Wunde am Ballen der linken Äand der
Frau Oekonomierat wollte noch immer nicht aufhören, ganz
sachte zu bluten. Ein mit Essig getränkter Schwamm half
gar nichts, und erst, ats Doktor Oehlschläger um Rat gefragt
worden war, brachte Eisenchlorid alles wieder in Ordnung.
„Das wollen wir aber doch nicht wieder machen, verehrte
Frau Oekonomierat!" sagte Doktor Oehlschläger und ver
schrieb ihr eine Schachtel Blaud'sche Pillen zur Stärkung.
Ia, für ein halbes Iahr war der Egel nun wieder
versorgt. Dann aber mußte doch von neuem Blut beschafft
werden. Frau Nogalski gedachte, zu diesem Zeitpunkt ihr
Dienstmädchen gegen ein ansehnliches Geschenk zur Kcrgabe
des für den stillen Kausgenossen notwendigen Lebenssaftes
zu bewegen. Als aber noch zwei Wochen an dem Termin
fehlten, kam zufällig der Frau Oekonomierat älteste Nichte
Clara, so im Vorübergehn zu Besuch. „Mir muß was
im Auge fitzen," sagte sie; „es juckt so." — „Laß einmal
sehn, Kind," sprach die Tante; sie untersuchte, und der Be-
fund lautete: Das wird ein Gerstenkorn! — „Äimmel, ein
Gerstenkorn!" schrie Clara; „das Lst ja gräßlich, da kann
man sich ja ein paar Tage lang nicht sehn laffen." — „Du
mußt Limschläge machen," riet die Tante. Aber dann, welch
Glück, fiel ihr ein: „Eine Blutentziehung wird das Beste
sein. Wir wollen dir unterhalb des Auges den Blutigel
setzen, — den Blutigel von Onkel Anton, weißt du."
Clara wollte zuerst nicht; der Blutegel gefiel ihr nicht.
„Er ist so glibberig!" sagte sie. Die Tante aber streichelte
sie ein wenig. „Laß ihn dir doch ansetzen, Kind — ich
schenke dir auch etwas ganz Wunderschönes." — Da hielt
denn Clara still, was ihr viel Lleberwindung kostete; der
Blutegel soff sich voll und war glücklich wieder für ein
Semester aller Nahrungssorgen enthoben. Llebrigens kam
das Gerstenkorn nachher doch, aber Tante Albertine brachte
Clara zum Trost ein prächtiges goldenes Armband. Siekonnte
dergletchen leicht schenken, die Frau Oekonomierat, denn
Dwarschkehmen war ein gehöriges Stück Geld wert gewesen.
— „Mensch, mit dem schartigen Meffer willst du mich rasieren!
Das ist doch wohl Spaß?" — „Nee, August, blutiger Ernst."
Meggendorfer-BläLter, München
Fingerzeig — „Da schau her, a Maus! Da
muß ich morgen früh glei amal an
Keller durchstöbern nach an Speck."
Der Blutegel
lang ausdehnen läßt, wenn sie auch um alles in der Welt
nicht diesen Versuch an ihrem Egel hätte machen und ihn
wie eine Gummistrippe behandeln mögen. Sie las weiter,
daß der Blutegel erst von seinem dritten bis fünften Iahre
an Appetit auf das Blut von Warmblütern bekommt, und
daß er bis zu zwanzig Iahren alt wird. Mit großem Er-
ftaunen aber ließ sie sich belehren, daß in srüheren Iahren
allein in den Kospitälern von Paris jährlich etwa sechs
Millionen Blutegel verbraucht wurden, die gegen hundert-
undsiebzigtausend Pfund Blut genoffen, — also soviel Blut
wie ein kleiner Krieg.
Jene Person aus der Verwandtschaft, die es so gefähr-
lich gefunden hatte, einen Blutegel (diese spöttische Person
sagte natürlich überhebungsvoll Egel und nicht Igel) ans
Äerz gewachsen zu haben, äußerte später noch: Der Blut'
egel bekommt bei Tante Albertine das Gnadenbrot. —
Das war ja auch so ungefähr der Fall. Nur wäre es sehr
angenehm gewesen, wenn der Egel wirklich Brot hätte zu
sich nehmen können. Aber darauf war er nicht eingerichtet;
er brauchte Blut, wie die Weltgeschichte, wenn auch glück-
licherweise nicht so viel. Blut mußte er bekommen, wenn
er am Leben bleiben sollte, und zwar, wie die Frau Oekonomie-
rat gleichfalls aus dem Konversationslexikon erfahren hatte,
etwa alle sechs Monate eine Menge, die ungefähr das
Vierfache seines Gewichtes ausmachte. Als zum erstenmal
die Notwendigkeit der Fütterung nahe trat, entschloß sich
Frau Nogalski, ihn — wie eine Pelikanmutter ihre Iungen
— mit ihrem eigenen Blute zu nähren. Sie war ein kleines,
schmächtiges, blutarmes Persönchen, die Frau Oekonomie-
rat, und hatte jeden Tropfen Blut selbst nötig. Zudem
war sie mit jener körperlichen Eigentümlichkeit behaftet,
die sich manchmal bei schwachen Leuten findet, daß selbft
bei ganz geringen Wunden das Tröpfeln des Blutes nicht
leicht wieder zum Stillstand zu bringen ist. Der Blutegel
hatte, dick und vollgesogen, schon lange losgelaffen und
ruhte sich in seinem Topf von der reichlichen Mahlzeit aus,
aber die kleine Wunde am Ballen der linken Äand der
Frau Oekonomierat wollte noch immer nicht aufhören, ganz
sachte zu bluten. Ein mit Essig getränkter Schwamm half
gar nichts, und erst, ats Doktor Oehlschläger um Rat gefragt
worden war, brachte Eisenchlorid alles wieder in Ordnung.
„Das wollen wir aber doch nicht wieder machen, verehrte
Frau Oekonomierat!" sagte Doktor Oehlschläger und ver
schrieb ihr eine Schachtel Blaud'sche Pillen zur Stärkung.
Ia, für ein halbes Iahr war der Egel nun wieder
versorgt. Dann aber mußte doch von neuem Blut beschafft
werden. Frau Nogalski gedachte, zu diesem Zeitpunkt ihr
Dienstmädchen gegen ein ansehnliches Geschenk zur Kcrgabe
des für den stillen Kausgenossen notwendigen Lebenssaftes
zu bewegen. Als aber noch zwei Wochen an dem Termin
fehlten, kam zufällig der Frau Oekonomierat älteste Nichte
Clara, so im Vorübergehn zu Besuch. „Mir muß was
im Auge fitzen," sagte sie; „es juckt so." — „Laß einmal
sehn, Kind," sprach die Tante; sie untersuchte, und der Be-
fund lautete: Das wird ein Gerstenkorn! — „Äimmel, ein
Gerstenkorn!" schrie Clara; „das Lst ja gräßlich, da kann
man sich ja ein paar Tage lang nicht sehn laffen." — „Du
mußt Limschläge machen," riet die Tante. Aber dann, welch
Glück, fiel ihr ein: „Eine Blutentziehung wird das Beste
sein. Wir wollen dir unterhalb des Auges den Blutigel
setzen, — den Blutigel von Onkel Anton, weißt du."
Clara wollte zuerst nicht; der Blutegel gefiel ihr nicht.
„Er ist so glibberig!" sagte sie. Die Tante aber streichelte
sie ein wenig. „Laß ihn dir doch ansetzen, Kind — ich
schenke dir auch etwas ganz Wunderschönes." — Da hielt
denn Clara still, was ihr viel Lleberwindung kostete; der
Blutegel soff sich voll und war glücklich wieder für ein
Semester aller Nahrungssorgen enthoben. Llebrigens kam
das Gerstenkorn nachher doch, aber Tante Albertine brachte
Clara zum Trost ein prächtiges goldenes Armband. Siekonnte
dergletchen leicht schenken, die Frau Oekonomierat, denn
Dwarschkehmen war ein gehöriges Stück Geld wert gewesen.
— „Mensch, mit dem schartigen Meffer willst du mich rasieren!
Das ist doch wohl Spaß?" — „Nee, August, blutiger Ernst."