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Zeitschrift für Humor und Kunst 37

Das Aktcnmiinnchen

Von Georg Müller

Die Kirchturmuhr kündete
die zweite Nachmittagsstunde,
und der §>err Referendar
schaute auf von seiner Arbeit,
in die er fich mit Lmgebung,

Fleiß und Eifer vertieft gehabt
hatte. Schon 2 Ahr! Und um
3 Uhr, ja um 3 Uhr wollte
er des Amtsrichters blonde
Else im Stadtgarten treffen.

Also noch eine Stunde. Er
wollte sich wieder mit Äin-
gebung, Fleiß und Eiser in die
Akten vertiefen, aber die
Sonne lachte hell ins Zimmer
und malte Elses lachenden
Lockenkops aus Papier, im
Baume vor dem Fenfter sang
der Buchsink und im Gebüsch
flötete die Amsel. Das alles
hinderte seine Gedanken. sich
in der gesollten N'chtung zu
bewegen. Statt dessen spa-
zierten sie bereits im Stadt
garten zwischen den hohen
Fliederbüschen und malten ihm
vor, wie ein goldiges lachen-
des Geschöpschen an seinem
Arme hing. Ganz in diese
angenebmen Gedanksn ver°
tieft, flng auch der Äerr Re-
serendar an zu malen, und er
malte mit dem zu juristischen
Zwecken bestimmten Bleistifte
ein kleines Männchen auf den
Rand des Aktenbogens.

Da schlug es 3 Uhr. Schwapp,
flogen die Akten zu und der
Referendar stürmte davon.

Am nächften Tage gingen
die Akten dem Lerrn Land-
richter zu. Er vertiefte sich
mit sachgemäß gesurchter
Stirne in den Rechtsinhalt.

Als er umschlug, zog plötzlich

eine Wo'ks des höchsten Llnmuts über seine sachaemäß ge-
surchte Stirne: dort hatte jemand vorschriftswidrig und
höchst unsachgemäß ein Männchen aus den Rand des eine
höchst wichtige Rechtssache behandelnden Aktenbogens ge-
malt! Das war zu stark!

Er schöpfte zunächft vor Lleberraschung und Entrüstung
ties Atem. Das war ihm in seiner langjährigen Praxis
denn doch noch nicht vorgekommen! Aber die Neuzeit übte
in jeder Beziehung ihren verderblichen Einfluß aus. Wäre
es noch ein kunstgerechtes Männchen gewesen! Aber dieses
da war expressionistffch-suturistisch verdreht und verschroben.
Anerhört!

Ties empört und zorngeschwollen schrieb er auf die Akte:
"K. L. zurück mit der Aufgabe, zu ermitteln, wer das Männ
chen in der Akte eingetragen hat!"

Nun bekam der Lerr Amtsrichter das unheilschwere
Aktenstück zur weiteren Veranlassung. Der Äerr Amts-
richter, sonst ein feuchtsröhlicher, menschenfreundlicher Mann,

Vereinfachung Besucher: ^Laben Sie kein Bild von Ihren Zwillingssöhnen?"

— „Freilich! Dort über dem Sopha!"

— „Das ist ja nur einer?" — „Der andere sieht gerade so aus!"

suchste sich, weil er seine kostbare Arbeitszeit mit Nach-
sorschung nach dem Arheber des Aktenmännchen vergeuden
sollte. Er ahnte wohl, wer der Arheber sein könr.te, aber
ebenso sicher sah er voraus, daß dieser eingedenk des Grund-
satzes aller Verbrecher: „Leugne srech!" mit dreister Stirne
die Schandtat in Abrede stellen würde. Ein Künstlerzeicken,
aus dem man den Arheber hätte seststellen und nachweisen
können, war aber aus der Zeichnung nicht angebracht.

Sollte er sich bloßstellen und dem Lerrn Landrichter
traurig eingestehen, daß er nicht imstande und sähig gewesen
sei, den Arheber der Aebeltat sackgemäß und beweiskräftig
zu ermitteln? Lediglich auf Verdachtsgründe hin konnte
man einen Verbrecher doch nicht überführen. Anangenehme
Sache, peinlich ewpfindliche Gewissenhaftigkeit des Lerrn
Landrichters, die es nicht zuließ, über solche Kleinigkeit
lächelnd hinwegzugehen. Wenn das Aktenmännchen ihm
am unrechten Ort zu fiehen schien, warum entfernte er es
denn nicht einfach?
 
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