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Meggendorfer-Blätter, München
Geweihter Ort — »Seit mir an dem Platzi mein
Franzl 'n ersten Kuß geb'n hot, mäh'
i die Schmalzblümeln, die drauf wachsen, nimma für unsa Kuah ab."
Der tausendste Zahn vo„P-rerNobtnso«
Lerr Dotschke hatte mit fünfzig Iahren noch sämtliche
Zähne im Munde, nämlich dreißig Stück. Man wende nicht
ein, daß es also nicht sämtliche gewesen wären, sondern noch
zwei gefehlt hätten, denn jene zwei, die sogenannten Wets-
heitszähne, waren ihm überhaupt nicht gewachsen. Das
kommt bei manchen Leuten vor und ist durchaus nicht als
Mangel zu belrachten. Im Gegenteil: dann haben die
dreißig Zähne besser Platz im Munde, derart, daß zwischen
je zweien immer ein geringer Zwischenraum ist, und das
ist von großer Bedeutung für die Erhaltung der Gesund-
heit der Beiß- und Kauinstrumente. Denn dann kann jeder
einzelne Zahn von dem bekanntlich sehr konservierend wir-
kenden Speichel ständig und tüchtig umspült werden. Wem
dieser Ausdruck unappetitlich erscheint, der möge fich bei den
Zahnärzten beschweren, — von denen stammt er nämlich.
Lerr Dolschke hatte also ganz prächtige Zähne. Trotz-
dem hatte er in seiner Iugend Nüsse damit geknackt und
Bonbons, die man eigentlich nur lutschen sollte, zermahlen,
auch später, als Nüsse und Bonbons ihm des Genießens
nicht mehr so wert waren, die Suppe immer — das war
eine Etgentümlichkeit von ihm — ganz heiß
und den Kaffee beinahe noch kochend getrunken
und überhaupt nichts von dem unterlassen, was
die Zahnärzte als sehr schädlich für die Zähne
erklären und wovor ste die Leute zu warnen
pflegen. Das ist übrigens sehr nett von ihnen,
denn wenn fie nicht warnen und ein Geheim-
nis daraus machen würden, könnten ste doch
eigentlich erwarten, mehr zu tun zu bekommen.
Sie find ebenso brav wie die Aerzte, die auch
eifrig warnen und in populären Artikeln aller
Welt erzählen, was man tun und unterlaffen
soll (meist kommt es aufs Anterlaffen an), um
sich vor allerlei Aebeln des Leibes zu bewahren,
während doch gerade von diesen Aebeln die
Aerzte ihre Berufsberechtigung herschreiben.
Aber fie wiffen schon, daß die Menschen doch
nicht auf solche Warnungen hören.
Der Zeit ist alles Irdische unterworfen.
Selbst von den alten Pyramiden ist schon
mancher Stein abgebröckelt, und wenn er auch
noch sehr, sehr fern sein mag, — einmal kommt
doch ganz ficher der Tag, da nichts mehr von
ihnen da sein wird. Lerrn Dotschkes Zähne
waren so vortrefflich, wie bei einem Europäer
unserer Zeit Zähne überhaupt nur sein können,
aber eines Tages — es war kurze Zeit nach
seinem einundfünfzigsten Geburtstag — fühlte
seine Zunge doch ein winziges Löchelchen an
der Rückseite eines Zahns, was übrigens eine
überflistfige Ortsangobe ist, denn an der Vor-
derseite cines Zahns hätte die Zunge natürlich
nichts fühlen können. „So, sol" dachte Lerr
Dotschke und weiter nichts. Manche Leute,
gewiß aber jeder Zahnarzt, werden nun meinen,
Dotschke hätte nun doch weiter denken müssen;
er hätte das Löchelchen im Zahn sorgfältig
auSbohren und kunstgerecht süllen lassen sollen,
mit Gold, das jetzt freilich elend selten ist,
oder mit Amalgam oder auch nur mit Zement.
Aber die Leute, dte das meinen, kennen eben
den Lerrn Dotschke nicht. Die Arbeit am
Zahn und die Füllung, selbst nur die mit Ze-
ment, hätte Geld gekostet, doch mit Geld pflegte Dotschke,
trotzdem er eigentlich genug davon hatte, gerade so zurück-
haltend zu verfahren, wie etwa ein Gerichtskassenrendant
mit Zeugengebühren: er gab immer nur gerade das Aller-
notwendigfie her. Aber für den Zahn etwas aufzuwenden,
das wäre ihm ganz und gar nicht notwendig erschienen,
wenn er überhaupt solch eine Möglichkeit in Erwägung ge-
zogen hätte. Aber nicht einmal das tat er.
Aus dem Löchelchen im Zahn wurde allmählich ein
Lock, das immer größere Speisenrefie in sich aufzunehmen
vermochte. Auch das störte Lerrn Dotschke nicht; im Gegen-
teil, es war doch von Zeit zu Zeit eine ganz nette Unter-
haltung, mit dem Zahnstocher in der kleinen Löhle herum-
zugraben. Dann aber kam eines Tages eine böse Aeber-
raschung, wie das immer so ist, wenn Nachläsfigkeit und
Schlendrian ein Aebel haben wachsen lassen: der Zahn
wurde frech, er muckte auf, er reooltierte. Die heißen
Suppen und den glühenden Kaffee wollte er fich nicht mehr
gefallen lassen; sowie nur ein wenig davon an ihn heran-
kam, ließ er durch Lerrn Dotschkes Laupt einen sehr pein-
lichen, erst ganz allmählich verebbenden Schmerz firahlen.
„Pfui Deiwel!" sagte Dotschke dann und nahm sich nun
Meggendorfer-Blätter, München
Geweihter Ort — »Seit mir an dem Platzi mein
Franzl 'n ersten Kuß geb'n hot, mäh'
i die Schmalzblümeln, die drauf wachsen, nimma für unsa Kuah ab."
Der tausendste Zahn vo„P-rerNobtnso«
Lerr Dotschke hatte mit fünfzig Iahren noch sämtliche
Zähne im Munde, nämlich dreißig Stück. Man wende nicht
ein, daß es also nicht sämtliche gewesen wären, sondern noch
zwei gefehlt hätten, denn jene zwei, die sogenannten Wets-
heitszähne, waren ihm überhaupt nicht gewachsen. Das
kommt bei manchen Leuten vor und ist durchaus nicht als
Mangel zu belrachten. Im Gegenteil: dann haben die
dreißig Zähne besser Platz im Munde, derart, daß zwischen
je zweien immer ein geringer Zwischenraum ist, und das
ist von großer Bedeutung für die Erhaltung der Gesund-
heit der Beiß- und Kauinstrumente. Denn dann kann jeder
einzelne Zahn von dem bekanntlich sehr konservierend wir-
kenden Speichel ständig und tüchtig umspült werden. Wem
dieser Ausdruck unappetitlich erscheint, der möge fich bei den
Zahnärzten beschweren, — von denen stammt er nämlich.
Lerr Dolschke hatte also ganz prächtige Zähne. Trotz-
dem hatte er in seiner Iugend Nüsse damit geknackt und
Bonbons, die man eigentlich nur lutschen sollte, zermahlen,
auch später, als Nüsse und Bonbons ihm des Genießens
nicht mehr so wert waren, die Suppe immer — das war
eine Etgentümlichkeit von ihm — ganz heiß
und den Kaffee beinahe noch kochend getrunken
und überhaupt nichts von dem unterlassen, was
die Zahnärzte als sehr schädlich für die Zähne
erklären und wovor ste die Leute zu warnen
pflegen. Das ist übrigens sehr nett von ihnen,
denn wenn fie nicht warnen und ein Geheim-
nis daraus machen würden, könnten ste doch
eigentlich erwarten, mehr zu tun zu bekommen.
Sie find ebenso brav wie die Aerzte, die auch
eifrig warnen und in populären Artikeln aller
Welt erzählen, was man tun und unterlaffen
soll (meist kommt es aufs Anterlaffen an), um
sich vor allerlei Aebeln des Leibes zu bewahren,
während doch gerade von diesen Aebeln die
Aerzte ihre Berufsberechtigung herschreiben.
Aber fie wiffen schon, daß die Menschen doch
nicht auf solche Warnungen hören.
Der Zeit ist alles Irdische unterworfen.
Selbst von den alten Pyramiden ist schon
mancher Stein abgebröckelt, und wenn er auch
noch sehr, sehr fern sein mag, — einmal kommt
doch ganz ficher der Tag, da nichts mehr von
ihnen da sein wird. Lerrn Dotschkes Zähne
waren so vortrefflich, wie bei einem Europäer
unserer Zeit Zähne überhaupt nur sein können,
aber eines Tages — es war kurze Zeit nach
seinem einundfünfzigsten Geburtstag — fühlte
seine Zunge doch ein winziges Löchelchen an
der Rückseite eines Zahns, was übrigens eine
überflistfige Ortsangobe ist, denn an der Vor-
derseite cines Zahns hätte die Zunge natürlich
nichts fühlen können. „So, sol" dachte Lerr
Dotschke und weiter nichts. Manche Leute,
gewiß aber jeder Zahnarzt, werden nun meinen,
Dotschke hätte nun doch weiter denken müssen;
er hätte das Löchelchen im Zahn sorgfältig
auSbohren und kunstgerecht süllen lassen sollen,
mit Gold, das jetzt freilich elend selten ist,
oder mit Amalgam oder auch nur mit Zement.
Aber die Leute, dte das meinen, kennen eben
den Lerrn Dotschke nicht. Die Arbeit am
Zahn und die Füllung, selbst nur die mit Ze-
ment, hätte Geld gekostet, doch mit Geld pflegte Dotschke,
trotzdem er eigentlich genug davon hatte, gerade so zurück-
haltend zu verfahren, wie etwa ein Gerichtskassenrendant
mit Zeugengebühren: er gab immer nur gerade das Aller-
notwendigfie her. Aber für den Zahn etwas aufzuwenden,
das wäre ihm ganz und gar nicht notwendig erschienen,
wenn er überhaupt solch eine Möglichkeit in Erwägung ge-
zogen hätte. Aber nicht einmal das tat er.
Aus dem Löchelchen im Zahn wurde allmählich ein
Lock, das immer größere Speisenrefie in sich aufzunehmen
vermochte. Auch das störte Lerrn Dotschke nicht; im Gegen-
teil, es war doch von Zeit zu Zeit eine ganz nette Unter-
haltung, mit dem Zahnstocher in der kleinen Löhle herum-
zugraben. Dann aber kam eines Tages eine böse Aeber-
raschung, wie das immer so ist, wenn Nachläsfigkeit und
Schlendrian ein Aebel haben wachsen lassen: der Zahn
wurde frech, er muckte auf, er reooltierte. Die heißen
Suppen und den glühenden Kaffee wollte er fich nicht mehr
gefallen lassen; sowie nur ein wenig davon an ihn heran-
kam, ließ er durch Lerrn Dotschkes Laupt einen sehr pein-
lichen, erst ganz allmählich verebbenden Schmerz firahlen.
„Pfui Deiwel!" sagte Dotschke dann und nahm sich nun