Aus eigener Erfahrung — „Weißt, Alte, ich bin froh, daß unser Lieschen jeht
gut verheiratct ist. Manchmal hab' ich doch Sorgen gehabt, sie möcht' sitzen bleiben."
— „Ansinn, Oskar, — so etwas hab' ich nie gedacht."
— „Ia, siehst, — du bist eben eine Frau, aber ich weiß, wie schwer so ein junger
Mann sich entschließt."
Das Entcn-Scndl
kein Laufen waren und trotzdem auf dem Wasser vorwärts
trtlgen.
Von Augenblick z» Augenblick wuchs die Qual des
armen kleincn, verlassenen, ratlosen Geschöpfes, zumal sie jeyt
auch sah, daß die Mutter sich beruhigte und mit einem
gewissen Stolz dem Entenmanöver zuschaute.
Also mußte wohl das Wassertreten mit zur Ausbildung
und zum Lebenszweck ihrer Kinder gehören.
Das kleine Luhn begann
mit den Flügeln zu flattern und
zu schlagen. Der Instinkt, die
Angst, die Furcht, das Grausen
hielt sie zurück — das Pflichtge-
fühl, der Lerneifer, die Geschwi-
sterliebe drängte sie vorwärts.
Plötzlich mit einem heftigen
Flügelschlagen saß auch das
kleine Luhn auf dem Wasser,
tat einen Schrei und ging wehr-
los unter.
E»n paar kleine Wasser-
kreise zitterten noch im Sonnen-
flimmern über die Fläche —
dann waren sie verschwunden.
Kein Denkmal zeugte von
dem stillen Opfer edelster Pflicht-
treue.
Nur die Stallmagd, die von
ferne die Tragödie mitangesehen
hatte, brummte: „O du Schaf!"
und ging brummend zum Melken.
So ist di« Welt.
Die zehn Neujahrskarten
Das ganze Iahr über war
Philipp Axelmann — salls es
jemand interessiert: der Mann
ifl Rentner mit miltelmäßigem
Einkomme» — mit einem bewölk-
ten Gesicht umhergegangen, und
je näher das Iahrcsende heran-
kam, destomehr hatte diese Be-
wölkung bei Axelmann zngenom-
men. In den letzte» Dezember-
tagen traten dazu noch andere
Symptome einer bedrohlich me-
lancholischen Gcmütsverfaffung:
starres Vorsickhinstieren uner-
gründliche Schweigsamkeit, zeik-
weiliges entsetzliches Seufzen.
An körperlichen Nückwirkungen
waren zu konstatieren: schlot-
ternde Knie und wankender
Gang, nervöses Zusammenzucken
ohne sichtliche Ursache, Abmage-
rung und ähnliche Erscheinungen
fortschrcitenden Verfalls. Kurz
und gut: Axelmann drohte, eine
Ruine zu werden.
Am l. Ianuar aber, gleich
nachdem der Briefträger da ge-
wesen war, schwanden alle diese
unerfreulichen psychischen und
physischen Zustände mit einem
Schlage. Philipp Axelmann war
wie verjüngt. Die Wolken von seinem Gesicht waren
geschwunden, aber dafür standen Zorn und Wut darauf
geschrieben. Er schlotterte und wankte nicht mehr, — er
sprang bis an die Decke und raste durch seine ganze Wohnung
in wildem Grimme. Er tobtc und brüllte.
Am Nachmittag, als er sich schon etwas beruhigt hatte,
erzählte er mir diese Geschichte. „Also, — wie ist so was
nur menschenmöglich! Solch eine Gemeinheitl Wenn ich
den Lund zu packen kriege, der sich dicse blöde Veranstaltung
in seinem elendcn Gehirn ausge-
heckthat,— o, es würde etwas Ent-
setzliches passiercn! Was dieser
unbekannte Schurke mich gequält
hat! Verflucht soll er sein! Der
Teufel soll ihn holen und Mar-
melade ans ihm machen, aber
ohne Zucker, bloß mit Süßstoff!
Passen Sie auf! Gerade
vor zehn Iahren, am l. Ianuar
I9II, als ich ganz ahnungslos
beim Morgenkaffee sitze, bringt
mir der Briefträger außer den
Neujahrskarten von Verwand-
ten und Freunden auch eine
Karte ohne Anterschrift. Eine
ganz gewöhnliche Postkarte ist
es, aber sie hat einen schwarzen
Rand. In der Mitte ist ein
schwarzes Kreuz aufgezeichnet,
und darunter steht: Noch 91 —
Weiter nichts.
Mir kam die Karte ein biß-
chen ungemütlich vor. Was sollt«
4
gut verheiratct ist. Manchmal hab' ich doch Sorgen gehabt, sie möcht' sitzen bleiben."
— „Ansinn, Oskar, — so etwas hab' ich nie gedacht."
— „Ia, siehst, — du bist eben eine Frau, aber ich weiß, wie schwer so ein junger
Mann sich entschließt."
Das Entcn-Scndl
kein Laufen waren und trotzdem auf dem Wasser vorwärts
trtlgen.
Von Augenblick z» Augenblick wuchs die Qual des
armen kleincn, verlassenen, ratlosen Geschöpfes, zumal sie jeyt
auch sah, daß die Mutter sich beruhigte und mit einem
gewissen Stolz dem Entenmanöver zuschaute.
Also mußte wohl das Wassertreten mit zur Ausbildung
und zum Lebenszweck ihrer Kinder gehören.
Das kleine Luhn begann
mit den Flügeln zu flattern und
zu schlagen. Der Instinkt, die
Angst, die Furcht, das Grausen
hielt sie zurück — das Pflichtge-
fühl, der Lerneifer, die Geschwi-
sterliebe drängte sie vorwärts.
Plötzlich mit einem heftigen
Flügelschlagen saß auch das
kleine Luhn auf dem Wasser,
tat einen Schrei und ging wehr-
los unter.
E»n paar kleine Wasser-
kreise zitterten noch im Sonnen-
flimmern über die Fläche —
dann waren sie verschwunden.
Kein Denkmal zeugte von
dem stillen Opfer edelster Pflicht-
treue.
Nur die Stallmagd, die von
ferne die Tragödie mitangesehen
hatte, brummte: „O du Schaf!"
und ging brummend zum Melken.
So ist di« Welt.
Die zehn Neujahrskarten
Das ganze Iahr über war
Philipp Axelmann — salls es
jemand interessiert: der Mann
ifl Rentner mit miltelmäßigem
Einkomme» — mit einem bewölk-
ten Gesicht umhergegangen, und
je näher das Iahrcsende heran-
kam, destomehr hatte diese Be-
wölkung bei Axelmann zngenom-
men. In den letzte» Dezember-
tagen traten dazu noch andere
Symptome einer bedrohlich me-
lancholischen Gcmütsverfaffung:
starres Vorsickhinstieren uner-
gründliche Schweigsamkeit, zeik-
weiliges entsetzliches Seufzen.
An körperlichen Nückwirkungen
waren zu konstatieren: schlot-
ternde Knie und wankender
Gang, nervöses Zusammenzucken
ohne sichtliche Ursache, Abmage-
rung und ähnliche Erscheinungen
fortschrcitenden Verfalls. Kurz
und gut: Axelmann drohte, eine
Ruine zu werden.
Am l. Ianuar aber, gleich
nachdem der Briefträger da ge-
wesen war, schwanden alle diese
unerfreulichen psychischen und
physischen Zustände mit einem
Schlage. Philipp Axelmann war
wie verjüngt. Die Wolken von seinem Gesicht waren
geschwunden, aber dafür standen Zorn und Wut darauf
geschrieben. Er schlotterte und wankte nicht mehr, — er
sprang bis an die Decke und raste durch seine ganze Wohnung
in wildem Grimme. Er tobtc und brüllte.
Am Nachmittag, als er sich schon etwas beruhigt hatte,
erzählte er mir diese Geschichte. „Also, — wie ist so was
nur menschenmöglich! Solch eine Gemeinheitl Wenn ich
den Lund zu packen kriege, der sich dicse blöde Veranstaltung
in seinem elendcn Gehirn ausge-
heckthat,— o, es würde etwas Ent-
setzliches passiercn! Was dieser
unbekannte Schurke mich gequält
hat! Verflucht soll er sein! Der
Teufel soll ihn holen und Mar-
melade ans ihm machen, aber
ohne Zucker, bloß mit Süßstoff!
Passen Sie auf! Gerade
vor zehn Iahren, am l. Ianuar
I9II, als ich ganz ahnungslos
beim Morgenkaffee sitze, bringt
mir der Briefträger außer den
Neujahrskarten von Verwand-
ten und Freunden auch eine
Karte ohne Anterschrift. Eine
ganz gewöhnliche Postkarte ist
es, aber sie hat einen schwarzen
Rand. In der Mitte ist ein
schwarzes Kreuz aufgezeichnet,
und darunter steht: Noch 91 —
Weiter nichts.
Mir kam die Karte ein biß-
chen ungemütlich vor. Was sollt«
4