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Bekanntschaft — „Aus Neustadt in Sacksen stnd Sie? 2lch, — und ich bin aus
Neustadt an der Dosse."

„Nun, sehn Sie, Fräulein, da sind wir ja so gut wie Landsleute."

Kaspar ReblichS Erlebniffe

Ei gucke mal, ei gucke mal,
fauchte die Maschine. Neblich
ärgerte stch über die Zeitung, über
sich und über das dumme Gerede
des Zuges und sah sich feindselig
im Abteil um.„Was willste denn?

Was willste denn?" ging es gera
deunter seinem Sitz, und dieAchse
gab ihm einen tüchtigen Stoß.

Reblich zog erneut seine
Zigarrentasche, rechnete aber
nach, ehe er sie öffnete. Fünf
waren drin — drei habe ich ge-
raucht, jeht käme die vierte —
halt, eine hat der Sckaffner be-
kommen — macht vier — also
ist noch eine darin. Entschlossen
klappte er auf. Was, Wie?

Fast hatte er es erwartet: es
waren wieder drei! Neblich
fühlte, wie ihm etwas zum Äerzen
hinkroch, er kam stch wie behcxt
vor. Kaum wagte er es, stch im
Abteil umzusehen.

Es war auch so merkwürdig
dunkel geworden und alle Leute
schliefen. Er hielt das Etui
immer noch unschlüsstg und ängst-
lich in der L>and, dann steckte er
es wieder ein und faßte stch, wie
er es bei angestrengtem Nach-
denken zu tun Pflegte, ans Kinn.

Sofort zuckte er hastig zurück.

Eine neue Aeberraschung!

Er war vollkoinmen unrasiert!

Das heute Mittag wachsapfel
glatt rasterte Kinn starrte von
kratzigen Stoppeln.

Ein Schauer nach dem an-
dern jagte über seinen Rücken,
an geordnetes Nachdenken war
nicht mehr zu denken. Er suchtc
mit den Augen nach Gegen-
ständcn, um sich von der Realität
seines Daseins zu überzeugen,
aber es war jetzt fast ganz dunkel.

Die halbrunde Lampe oben war
vom Schirm überdeckt und durch
die Maschen des Gewebes sah
er das Gaslicht brennen, draußen
sausten Laterncn vorbei: es war vollkommen Nacht. Dabei
mußte es seiner Schätzung nach etwa drei Ahr mittags sein.
Er stierte gebanntcn Blickes zum Fenster hinaus, eine vor-
überfliegende Ahr um Rat zu fragen. Aber eS kam keine Station.

Der Schaffner ging mit einem Licht durch das Abteil.
Ein Fahrgast, eben erwacht, fragte: „Schaffner, wann sind
wir in Bahnhof Zoo?"

„Een Oogenblick!" sagte der Schaffner und blätterte in
seinem Buch, „steben Ahr fünf Minuten, also keene Viertel-
stunde mehr."

Neblich wagte nicht zu sragen, ob es Abend oder
Morgen sei. Er glaubte sich zu besinnen, daß um die an-
gegebene Zeit ein V-Zug in Berlin ankäme. Es graute ihm,
nnd Schweiß trat auf seine Stirn.

„Was soll daraus werden?" sagte er sich. „Ich fahre
also rückwärts in die Vergangenheit hinein!"

Der Zug hielt. Mechanisch ergriff Neblich seinen Koffer
und sprang hinaus. Lerr Gott! war das eine Kälte! Nur
schnell in ein Lotel oder noch besser zu einem Arzt! Der
Wind fuhr ihm in Rockärmel und Äosenbeine hinein. Es
war geradezu eisig. Er zitterte vor Kälte.

„Anhalten! Verhaften!" hörte er rufen und sah sich doch
um, zu sehen, was es gäbe. Da drangen zwei Bahnbeamte
und ein Schutzmann auf ihn ein und packten ihn am Landgelenk.

„Wie kommen Sie in diesem Aufzua hierher?" schnauzte
der Schutzmann. Reblich sah an sich hinunter. Er war
im Nachthemd und hatte eine Zahnbürste in der Land. Seine
Füße steckten in Pantoffeln.

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