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Erfaffung der Goldwerte

„In zwoa Minuten is der Eimer voll. A jeder Griff bringt a Markl suffzig!"

Vom atten Lerrn Sartorlus. dem Friedhof und der Eisenbahn
ein 5iecht für die alten Karpfen. Vor Lerrn Sartorius
aber Pflegte er eine abweichende Meinung stets weniger
hitzig. ja fast liebenswürdig zu vertreten, wie dem neu
zugezogenen Bürger überhaupt allerseits in der angenehm-
sten Weise begegnet wurde, da er einen für Müskenburger
Verhältnisse doch sehr gewaltigen Geldsack mitgebracht
hatte. Dies hatte auch zur Folge, daß Lerrn Sartorius
nach zwei Iahren der Ehrenposten eines Stadtrats ange-
boten wurde, wofür er nichts bekam, aber auch nichts be°
sonderes zu tun hatte.

Fünf Iahre — wie schnell gingen sie doch dahin —
hatte Iohannes Sartorius so in vollkommenem Gleichmaß
verbracht, da wurde fern von Müskenburg ein Plan gefaßt,
der notwendig und dessen Ausführung nützlich zu sein schien.
Nämlich in Berlin. Dort sind freilich oft Pläne gefaßt
worden, die notwendig und deren Ausfllhrung nützlich zu sein
schien, aber diesmal ließ sich nichts dagegen einwenden: eine
Bahn sollte gebaut werden, von Berlin bis an die ferne
Ostgrenze. Wenn eine Bahn gebaut wird, geht es niemals
so zu wie in dem einen Ausnahmefall der Bahn von Peters-
burg nach Moskau, die in einer ziemlich schnurgeraden Linie
gebaut werden mußte. Denn SeinerMajestät dem damaligen
Zaren gefiel auf dem ihm vorgelegten Plan die sich schlängeln
de Linie nicht, weshalb er einfach ein Lineal nahm — oder
war es sogar sein Degen? — und auf der Karte zwischen
beiden Städten einen geraden Strich zog, den dann die
Ingenieure, so gut es irgend ging, eingehalten haben. Bei
der Bahn von Berlin nach dem Osten wurde es also nicht
so gemacht; die sollle bald nach rechts, bald nach links ab°
weichen, um möglichst viele Städte zu berühren. Einen recht
bedentenden Bogen aber mußte die Stadt Müskenburg er-
fordern, denn dort sollte die Bahn auch vorbei. Demgemäß
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erschienen ein paar Ingenieure, nahmen im „Großen Kur-
fürsten" Quartier und sahen sich die Gegend mit technisch
geschulten Augen an.

Lerrn Sartorius war dies Eisenbahnprojekt sehr unan-
genehm. Er war noch nie mit einer Eisenbahn gefahren;
er hatte auch nicht die Absicht, das jemals zu tun, und des-
halb erschien ihm solche Einrichtung von vornherein unnötig.
Entsetzt aber war er, als er vernahm, wie die Leute mit
den technisch geschulten Augen die Strecke zu führen beab-
sichtigten. Ganz nahe am Friedhof vorbei sollte die Bahn
gehn, und ein häßlicher hoher Bahndamm sollte dort auf-
geführt werden, der die liebliche Aussicht vom Friedhof
auf den See ein für allemal zubauen würde. And an dem
solchermaßen seines schönsten Vorzuges beraubten Fciedhof
vorüber würden die Züge vorbeisausen mit Pfeifen und
Rattern, mit Rauch und Staub, daß von rechtem Frieden
nicht mehr würde die Rede sein können. Das war nicht
vorauszusehn gewesen, sonst wäre Lerr Sartorius nicht nach
Müskenburg gezogen. Aber nun war er einmal da, hatte
sich prächtig eingelebt und keine Lust, noch einmal aus
zuwandern. Also mußte der Bahnbau bekämpft werden, —
von ihm, Iohannes Sartorius, der sich jetzt sehr darüber
sreule, Stadtrat von Müskenburg zu sein, da dieser Charakter
ihn zu seinem Vorhaben doch eher legitimierte. Aussichts-
los schien ihm der Kampf nicht; er konnte auf eine ganze
Menge Bundesgenossen rechnen, die er nur richtig zu
sühren brauchte.

Da war zuerst einmal der Lerr Kreisphysikus, dem aus
in seiner Wissenschaft liegenden Gründen die Eisenbahn
mißfiel. Wenn Lerr Sartorius die Bahn nicht nach
Müskenburg haben wollte, weil sie — er verschwieg diese
Meinung sreilich sorgfältig — ihm die Toten zu stören
schien, so war dcr Kreisphysikus dagegen, weil sie, so be-
 
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