Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das gemeinsame

Mittagsblatt

Von Ferdinand Kahn

Früher war die Sache immer
so gewesen: Blauwafserers,

Apfelbaumallee 34 u bekamcn
um acht Ahr das Morgenblatt.

Vei günfliger Witterung las
§>err Blauwasscrer das Blatt
imGarten, unvcrsehrt von allcn

Erregungen, schlicht Kenntnis
nehmend von dcn wichtigeren
Geschehnissen. Dann ließ er die
Zeitung liegen, der Wind
lründelte sie durch diese odcr
jene Lücke im Gartenzaun auf
die Straße hinaus, und ein
kleiner Iunge machte sich einen
Äelm daraus. Oder ein schön-
heitstrunkener Morgenwan-
derer hob sie auf, um sie an
einer Stelle, wo es nicht so
darauf ankam, sortzuwerfen.
z. B. in der Bahnhofstraße,
weil ja dort in der Lauptsache
nur Fremde sich bewegten.

Benglers, Apfelbaumallce
^4b, hiclten sich ein Abend-
blatt. Dieses Abendblatt kam
um sieben !lhr, wurde um-
gehend von irgendwem verlegt
"»d nach dem Abendbrot, wenn
die trauliche Langeweile ins
Zimmer schlich, von allen
Venglers gesucht, weil Lerr
Vengler cs lescn wollte. Wcnn
nian es dann fand, war es
erstens das von vorgestern,
und zweitens mochte Äerr
Vengler es nicht mehr haben.

Denn er war mllde und
wollte ins Vett.

So war es also immer ge- Zjehleute V0N heute
wcsen. Man hielt sich die
Zeitungen für den Fall, daß
nian sie lesen wolle, aber man
kas sic nicht, wcil man sie hielt.

Das Morgenblatt stand übrigens politisch ein wenig
links, das Llbendblatt hingegen moderiert rechts.

And die bciven Ääuser in der Apfelbaumallee, die Läuser
Nunnner 34 s und 34 b waren cigentlich nur ein Äaus. Oder
oielinehr zwei halbe Läuscr. Das wollten jedoch weder Blau-
wasserers noch Benglers wahr haben. Sie legten Wert da-
^uuf, je i„ einem Eiiifamilienhaus zu wohnen. Ans kann's
schließlich egal sein (es ist doch nur ein üaus!).

Aeber diese Venglers und Blauwasserers kam, wie über
uns alle, die erschreckliche Teuerung. Wie man sich auch
nach der Decke streckte — sie war zu kurz. Ein Liter Bier
kostete vicr Mark, eine gestreifte Äose ackthundert Mark
und ein Ouartalsabonnement auf das Morgenblalt drcißig
Mark. Die Einfamilienhausbewohner seufzten sich über das
stark reparaturbedürftige Gartengitler — (eigentlich waren
ks nur zwei halbe Gärren, aber warum soll man Blau-
wasserers und Venglers die Freude verderben) — seufzten
' auE rgenblatt tründelte eben träumerisch

— „'n miescpetriger Amzug is' das! Nich mal 'n
Diwan is da, daß man sich mal ausruhn kann."

dahin. Im Morgenwind. Scin Dahinschweben zeugte in
Lerrn Benglers Laupt eine Idcc.

„Warum" — sagte er Plötzlich, — „warum halten wir
uns eigentlich zwei Zeitungen! Sie eine Zeitung und wir
eine Zeitung?"

„Ia mei! brummte Lerr Blauwasserer. Das hicß,
er sehe keine Möglichkeit, wie man der Bürgerpflicht,
Zeitungsabonnent zu sein, entrinnen könne. Aber Lerr
Bengler sah eine Möglichkeit. Eine halbe Möglichkeit...

„Wir könnten uns doch miteinander eine Zeitung halten!"
suhr er fort.

„War net schlecht!" pflichtete Lerr Blauwafserer bei.

Die Aktion war eingeleitet.

Sie brachte als erste Phase eine leidenschaftliche Aus-
einandersehung über Vorzüge und Fehler der bisher ge-
lescnen Zeitungen. Blauwasserer pries das Morgenblatt
wie cinen papierenen Messias und sagte dafür dem Abend-
blatt viele große Schändlichkeiten nach. Bengler gab dem

199
 
Annotationen