Begreiflicher Irrtum — ,,Da schauen Sie nur, 5Ierr Wirt, jetzt hat mir je-
mand die Lälfte von meiner Serviette abgeschnitten!"
Das Testament des Ieremias Tiburtius
12. Oktober. Es ist spät am Abend, und der herbstlichen
Witterung wegen brennt ein tüchtiges Lolzfeuer im Kamin
des großen, verschwenderisch ausgestattetenRaumes, den Zere-
mias Tiburlius in der letzten Zeit seines Lebens vorzugsweise
bewohnt hatte. Adelina siht, nachlässig hingegoffen, in einem
Sesselam Kaminfeuer, knabbert Süßigkeiten und liest in einem
unpassenden Buche. Das heißt: Das Buch ist nur so im all-
gemeinen als unpassend zu bezeichnen, — für Adelina mag es
ganz gut passen. Franz Wulfshoff hat sich daran gemacht, in
dem gewaltigen Schreibtisch seines Ontels ein bißchen herum-
zuschnüffeln. Dabei gerät er an ein verstecktes kleines Fach.
Er zieht es auf, — ein pergamentener Amschlag liegt darin.
Franz erblaßt; eine düstere Ahnung befälll ihn. Mit bebenden
Fingern öffnet er den Amschlag und findet ein Dokument von
der Land seines verstorbenen Oheims. Mitflackernden Augen
überfliegt er die wenigen Zeilen. Er liest:
Mein unwiderruflich letzter Wille.
Liermit sto ße ich das zu Gunsten meines Neffen Wulfshoff
errichtete Testament wieder um, weil ich ihn als schurkischen
und ganz und gar verdorbenen Menschen erkannt habe. Mein
sämtlicher beweglicher und unbeweglicher Besih soll nunmehr
meiner Nichte Eva Tiburtius zufallen, die, wie mir eingezogene
Erkundigungen bestätigt haben, ein gutes und edles Mädchen ist.
Sie wird von meinem Neichtum einen besseren Gebrauch zu
machen wissen als mein ungeratener Neffe. Meine letzten
Segenswünsche gelten ihr. Ieremias Tiburtius.
Dies also liest Franz Wulfshoff. Er stößt einen Schrei
des Entsetzens aus. Adelina verschluckt stch vor Schreck an
einem Kognakpralinä und läßt das unpassende Buch fallen.
Dann nimmt sie Franz das Dokument aus den schlotternden
Äänden, liest es gleichfalls, und nun starren sich beide blaß,
stumm und ratlos an.
Dies geschieht also am 12.Oktober,—abends um II !Ihr
15 Minuten Man wolle das genau beachten. Was aber
erfolgt nun? Das Allereinfachste, das ganz Selbstverständ-
liche wäre es doch, daß Lldelina, die ja sowieso neben dem
hell brennenden Feuer sitzt, mit einer schnellen Landbewe-
gung das Testament des Ieremias Tiburtius in die Flammen
werfen würde. Im nächsten Augcnblick wllrde es vom Feuer
verzehrt sein, — es wäre so gut wie niemals da geweseu,
kein Mensch würde darum wissen außer Franz und Adelina,
und die würden sich natürlich hüten, die Mäuler aufzumachen.
Sie würden in Glanz und Lerrlichkeit leben; Eva Tiburtius
aber und Felix Schmidt, ihr braver Bräutigam, würden nie
im Lebcn erfahren, daß sie um das große Vermächlnis be-
trogen worden seien.
Ia, so würde es also zugehn, wenn jene Leute Recht
hälten, die da behaupten, daß gar keine seltsamen Geschichten
mehr passieren. Aber es kommt anders, ganz anders!
Adelma und Franz zittern also zunächst eine ganze Weile.
Dann aber faßt Adelina, die zweifellos stärkereNatur, die ja
auch Franz vollkommen beherrscht, wieder Mut. Sie rüttelt
den ganz zusammengesunkenen Franz auf. „Ermanne dich!
Wir müssen handeln! Laß' uns überlegen, was zu tun ist!"
!lnd nun bcrät das schurkische Paar, wie es am besten
die Entdeckung des Testaments verhindern kann. Das
Nesultat diejer Beratung ist, daß Adelina, die zunächst
einmal das belastende Dokument in ihr stntermieder ein-
näht, in den nächsten Tagen sich krank stellt. Ein Arzt
aus der Nachbarschaft wird gcholt, so ein braver Land-
doktor. Adelina hüstelt; sie erklärt, Stiche in der Brust zu
spttren. Der Arzt kann zwar nichts Besonderes finden,
aber er meint, vielleicht würde der Dame eine Seereise zur
Kräftigung gut tun. „Vielleicht nach Westindien?" schlägt
Franz Wulfshoff vor. „O ja, das würde ganz geeignet
sein," sagt der Doktor, cmpfängt sein reiches Lonorar und
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mand die Lälfte von meiner Serviette abgeschnitten!"
Das Testament des Ieremias Tiburtius
12. Oktober. Es ist spät am Abend, und der herbstlichen
Witterung wegen brennt ein tüchtiges Lolzfeuer im Kamin
des großen, verschwenderisch ausgestattetenRaumes, den Zere-
mias Tiburlius in der letzten Zeit seines Lebens vorzugsweise
bewohnt hatte. Adelina siht, nachlässig hingegoffen, in einem
Sesselam Kaminfeuer, knabbert Süßigkeiten und liest in einem
unpassenden Buche. Das heißt: Das Buch ist nur so im all-
gemeinen als unpassend zu bezeichnen, — für Adelina mag es
ganz gut passen. Franz Wulfshoff hat sich daran gemacht, in
dem gewaltigen Schreibtisch seines Ontels ein bißchen herum-
zuschnüffeln. Dabei gerät er an ein verstecktes kleines Fach.
Er zieht es auf, — ein pergamentener Amschlag liegt darin.
Franz erblaßt; eine düstere Ahnung befälll ihn. Mit bebenden
Fingern öffnet er den Amschlag und findet ein Dokument von
der Land seines verstorbenen Oheims. Mitflackernden Augen
überfliegt er die wenigen Zeilen. Er liest:
Mein unwiderruflich letzter Wille.
Liermit sto ße ich das zu Gunsten meines Neffen Wulfshoff
errichtete Testament wieder um, weil ich ihn als schurkischen
und ganz und gar verdorbenen Menschen erkannt habe. Mein
sämtlicher beweglicher und unbeweglicher Besih soll nunmehr
meiner Nichte Eva Tiburtius zufallen, die, wie mir eingezogene
Erkundigungen bestätigt haben, ein gutes und edles Mädchen ist.
Sie wird von meinem Neichtum einen besseren Gebrauch zu
machen wissen als mein ungeratener Neffe. Meine letzten
Segenswünsche gelten ihr. Ieremias Tiburtius.
Dies also liest Franz Wulfshoff. Er stößt einen Schrei
des Entsetzens aus. Adelina verschluckt stch vor Schreck an
einem Kognakpralinä und läßt das unpassende Buch fallen.
Dann nimmt sie Franz das Dokument aus den schlotternden
Äänden, liest es gleichfalls, und nun starren sich beide blaß,
stumm und ratlos an.
Dies geschieht also am 12.Oktober,—abends um II !Ihr
15 Minuten Man wolle das genau beachten. Was aber
erfolgt nun? Das Allereinfachste, das ganz Selbstverständ-
liche wäre es doch, daß Lldelina, die ja sowieso neben dem
hell brennenden Feuer sitzt, mit einer schnellen Landbewe-
gung das Testament des Ieremias Tiburtius in die Flammen
werfen würde. Im nächsten Augcnblick wllrde es vom Feuer
verzehrt sein, — es wäre so gut wie niemals da geweseu,
kein Mensch würde darum wissen außer Franz und Adelina,
und die würden sich natürlich hüten, die Mäuler aufzumachen.
Sie würden in Glanz und Lerrlichkeit leben; Eva Tiburtius
aber und Felix Schmidt, ihr braver Bräutigam, würden nie
im Lebcn erfahren, daß sie um das große Vermächlnis be-
trogen worden seien.
Ia, so würde es also zugehn, wenn jene Leute Recht
hälten, die da behaupten, daß gar keine seltsamen Geschichten
mehr passieren. Aber es kommt anders, ganz anders!
Adelma und Franz zittern also zunächst eine ganze Weile.
Dann aber faßt Adelina, die zweifellos stärkereNatur, die ja
auch Franz vollkommen beherrscht, wieder Mut. Sie rüttelt
den ganz zusammengesunkenen Franz auf. „Ermanne dich!
Wir müssen handeln! Laß' uns überlegen, was zu tun ist!"
!lnd nun bcrät das schurkische Paar, wie es am besten
die Entdeckung des Testaments verhindern kann. Das
Nesultat diejer Beratung ist, daß Adelina, die zunächst
einmal das belastende Dokument in ihr stntermieder ein-
näht, in den nächsten Tagen sich krank stellt. Ein Arzt
aus der Nachbarschaft wird gcholt, so ein braver Land-
doktor. Adelina hüstelt; sie erklärt, Stiche in der Brust zu
spttren. Der Arzt kann zwar nichts Besonderes finden,
aber er meint, vielleicht würde der Dame eine Seereise zur
Kräftigung gut tun. „Vielleicht nach Westindien?" schlägt
Franz Wulfshoff vor. „O ja, das würde ganz geeignet
sein," sagt der Doktor, cmpfängt sein reiches Lonorar und
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