Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Der gute Verwandte

zu kümmern. Nur das Kochen überläßt er mir, seit neun
Iahren, obgleich ich ja eigentlich nichts davon verstehe.

Wenn zuviel Gas verbraucht wird, und der Gashahn
gesperrt werden muß, wenn man, was für die Augen sehr
wohltuend und überdies sehr sparsam ist, ab sieben Ahr abends
zwecks Verhinderung der Stromentnahme die Sicherungen
an der Schalttafel herausnehmen oder die Dampsheizung
in toto absperren muß, — darum brauche ich mich nie zu
kümmern, das macht alles Onkel Balduin. Llnser Laushalt
läust wie auf Kugellagern.

Na, Du wirst ihn ja kennen lernen, wenn Du kommst!
Onkel Balduin ist der Prototyp eines guten Onkels, eines
treubesorgten Verwandten, ist das Ideal eines Äausgenossen,
das dlon plus ultru eines Lebensgesährten, mit einem Wort:
Onkel Balduin ist eine Perle im wahrsten Sinne des Wor--
tes, und was sür eine!

Aebrigens, wenn Du kommst, kannst Du nicht von Deiner
ärztlichen Einrichtung so einen kleinen, handlichen Taschen-
röntgenapparat mitbringen? Wir
müssen den Onkel mal durch-
leuchten.

Auf Wiedersehen!

Dein getreuer Theobald."

Wenn es einem Menschen so
gut geht, wie es anscheinend Theo-
bald ging,muß manihm dieBürde
seiner Freude tragen helsen. Ge-
teiltes Leid ist halbe Freude. Ich
reiste an einem schönen Morgen
ab, natürlich ohne Röntgenein-
richtung. Wie Theobald sich das
bloß vorstellte!

Theobald kam mir mit der
Iodtinktur entgegen. Mein erster
Blick oder eigentlich mein erster
Ruch galt der Badewanne. Mit
dem Auge des Kenners sah ich,
daß die Austern aufgehört hatten,
zu den Lebenden zu zählen, und
ich warf sie in den Mülleimer.

Meine hochgespannten Er-
wartungen in Beziehung auf
Balduin wurden in jeder L,insicht
übertroffen.

Onkel Balduin war ein nör-
gelnder, meckernderund eigensinni-
ger Tapergreis, ein ausgemachtes
Scheusal, der den armen Theobald
tyrannisierte.

Ich wunderte mich, ich bohrte,
und eines Abends erzählte mir
Theobald die Geschichte seines
Onkels Balduin.

„Als Onkel Balduin sechzig
war, ging er nach Wildbad zur
Kur. Er war damals noch ein ganz
sescher Bursche. Eines Abends
saß er im Kurtheater und hörte
sich Lohengrin an. Onkel Balduin,
der nur des Renommees wegen
gegangen war, lehnte sich im Sessel
zurück und gähnte laut und aus
tiefster Seele. Er saß in einer der
letzten Reihen, dicht unter der

Nangloge. Plöhlich sühlte Onkel Balduin etwas glattes,
rundes in seinen weit geöffneten Mund sallen. Er er-
schrickt, er schluckt das glatte, runde hinunter. Es bewegt
sich langsam und sühlbar nach abwärts, woraus er auf eine
beträchtliche Größe schloß.

Onkel Balduin ging betreten nach Äause und grübelte
nach, was er verschluckt haben könne. Daß etwas vom
ersten Rang herab und gerade in seinen Mund gesallen
war, das stand fest. Aber was? Einen Monat noch spürte
er das Ding im Magen herumwandern, dann bekam er
eine Abneigung gegen die Konzentration seiner Gedanken
auf diesen Punkt und ließ sich das Gedächtnis daran weg-
hypnotisieren. Vorher erzählte er mir aber den Fall.

Meinen eifrigen Nachforschungen gelang es, zu eruieren,
daß um die sragliche Zeit die russische Großfürstin Feodora
Andrejewna in Wildbad ein Iuwel aus der Zarenkrone,
ein Geschenk des Zaren, eine Perle von der Größe eines
Taubeneies und von unermeßlichem Werte verloren habe."
Theobald schwieg lächelnd.
 
Annotationen