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Ein Charakter

Von Artur Wagner

„Kennen Sie den Unterschied zwischen einer Taschen-
uhr und einer Verlobung, hä? Nicht? Nun, dann brauchen
Sie deswegen nicht gleich stundenlang zu schluchzen. Ich
kenne ihn nämlich selbst nicht! Die Sache ist die: es be°
steht überhaupt gar kein Anterschied zwischen diesen beiden
Dingen, sondern eine merkwürdige Aebereinstimmung.

Ditte, lassen SLe mich ausreden und nehmen Sie den
Mittelfinger aus dem Backzahn,wenn ich mit Ihnen spreche!
Za, zwischen einer Taschenuhr und einer Verlobung be°
steht eine so weitgehende Aebereinstimmung, daß man es
nicht glauben sollte.

Erstens: in jeder Taschenuhr und in jeder Verlobung
ist die LLnruhe die Lauptsache. Fein, was? 5)ören Sie nur,
es geht noch weiter. Auch die beste Taschenuhr muß immer
gut ausgezogen sein!

Was lachen Sie denn?

Muß eine Verlobung,
und wäre es die beste,
nicht auch immer gut
aufgezogen sein? Drit-
tens aber: eine wirk-
lich gute Taschenuhr
kann man so oft fallen
lass en, wie man will, sie
geht immer weiter,
und bei einer wirklich
guten Verlobung ist
dasselbe der Fall."

„Nur, wenn man
so charakterlos ist,
wie Sie!" sagte Por-
phyrius Feuchtebacke.

„Oho!" sagte ich.

Äier ist es an der
Zeit, einige Bemer-
kungen über meinen
Freund Feuchtebacke
einzuflechten. Wir ken-
nen uns seit zwanzig
Iahren. Da wird es
auffallen, daß wir
„Sie" zueinander sa-
gen. Ich weiß nicht
genau, duzen wir uns
nicht, weil wir uns so
gut kennen, oder kennen wir uns so gut, weil wir uns nicht
duzen. Wir sind beide edle Charaktere, obgleich Porphy-
rius soeben das Gegenteil von mir behauptet hat, beide
verschlossen wie Sardinenbüchsen. Porphyrius ist eine
schwer zugängliche Natur, die sich nicht leicht an jemand
anschließt. Er redet sogar seinen Kanarienvogel mit Sie an.

„Oho!" sagte ich.

„Pah!" zischte Porphyrius, „Sie haben keinen Charakter,
nicht für sünf Psennige."

Ich kann solche Vorwürfe aus dem Munde meines besten
Freundes nicht leiden und grübelte darüber nach, wie ich
ihm beweisen könnte, daß er auf dem Äolzwege sei. Me-
chanisch ergriff ich einen Wollfaden an einem der Sport-
strümpfe, die Porphyrius um die Waden trug, und begann
ihn um den linken Zeigefinger zu wickeln. Sollte ich ihm
die Geschichte meiner Verlobung erzählen, oder sollte ich
ihm einen Stachelkaktus an den Kopf werfen und dann

gehen? Nein, der Wunsch, mich zu rechtfertigen, benahm
mir alle Scheu.

„Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen?" fragte ich.
Porphyrius nickte, und ich begann:

„Ich lernte Sie kennen, als ich —-"

„Sprechen Sie von einer Taschenuhr oder von einer
jungen Dame?" unterbrach er mich. „Es ist nur wegen der
Klarheit, und damit Sie nachher keine Ausflüchte machen
können."

„Von einer jungen Dame," sagte ich, „einem entzücken-
den, reizenden Wesen! Ich lernte sie kennen-"

„Das meinen Sie nur," schaltete er ein, „man lernt sie
nie kennen."

Mit Porphyrius durfte man nicht allzu zartfühlend ver-

fahren. Das wußteich.
Deshalb goß ich ihm
kurz und überraschend
einen Maraschino in
den Vollbart. Das
war ein probates Mit-
tel, und es machte ihn
auch heute sosort ruhig
und gefittet.

Ich begann von
neuem:

„Siesindsicherschon
mal Eisenbahn ge-
fahren, Porphyrius?
Gut! Dann wissen
Sie, daß immer eine
junge Dame mitfährt,
in die man sich von
Station zu Station
mehr verliebt. Ich setze
den Fall,daß man von
München nach Berlin
fährt. In München
ist sie einem noch voll-
kommen gleichgültig,
man sieht sie an und
sagt in Gedanken:
„Blindschleiche!" Der
Zug rast durch Ober-
bayern und Franken,
man sieht sie immer
noch an und denkt nicht mehr Blindschleiche, sondern
Schnucki und wünscht sich hinter Fürth ein niedliches
kleines Eisenbahnunglück. So geht es von Kilometer zu
Kilometer weiter, und in der Gegend von Probstzella ist
man von einer wahnsinnigen Leidenschast erfaßt.

Man erlebt im Zug die Geschichte einer Liebe nicht in
Iahren, sondern in Stunden. Kurz hinter Naumburg verspürt
man bereits einen leichten Aeberdruß, bei Corbetha beginnt
einen die Landschaft wieder zu interessieren, zwischen Iüter-
bog und Luckenwalde sagt man wieder Blindschleiche, und in
Berlin ist sie einem genau so gleichgültig wie in München."

Ich hatte bereits einen netten kleinen Wolleknäuel aus
meine linke §>and aufgewickelt, und Porphyrius sagte, es
käme kalt von unten herein.

„Nun, der Mensch ist anpaffungsfähig," fuhr ich fort.
„Was man im Zug in Stunden erlebt, das absolviert man
unter anderen Umständen in Sekunden, beispielsweise im

1ZZ


„Sie wollen durchaus zusammen engagiert sein? Aber Sie wissen
doch, wie schwer es ist, ein Ehepaar unterzubringen. — „Bester Äerr
Grünstern — Sie tun ja gerade, als wären Sie das Wohnungsamt."
 
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