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Meggendorfer-Blätter — 56.1904 (Nr. 680-692)

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Nr. 692
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^It e g g c n ö o r fc r - BI a t l e r, t ü n ehe n

Das Stadtkind




kleines Brüderchen
Siehst Du, Vater,
waren? Unsere
herkömmlichen Be-

Bitt' schön, Herr Bauer, ist das Betreten dieser Miese gestattet?"

Die Zeit verging. Die
alten vanselows sahen
Sohn und Schwiegertochter
nicht wieder. Ersterer schrieb
fast in jedem Briefe, daß er
von seinem Geschäfte nicht
abkommen könne; die Litern
sollten ihn doch einmal be-
suchen, da sie über ihre Zeit
frei verfügen könnten.
Lange zögerten die alten
Leute, Als aber nach reich-
lich fünf Jahren ein Brief
die Ankunft eines zweiten
Lnkelchens meldete, setzten
sie sich flugs in die Eisen-
bahn und dampften nach
ZLstadt hinüber ohne vor-
herige Anmeldung, Der
Besuch sollte eine vollstän-
dige Ueberraschung sein;
denn Frau Amalie war der
Meinung, in solchem Falle
wäre die Freude des Wieder-
sehens eine desto größere.
Ls war ein warmer,
schöner Sommernachmittag,
als sie in einer am Bahnhof
gemieteten Droschke am
Hause des Sohnes vorfuhren, Raum aus dem Magen gestiegen,
rief Frau Amalie, den Gatten am Arm fassend: „Gtto, sieh
doch, unsere Wiege!"
Und richtig! Dort stand das alte Möbel in dem kleinen
Vorgarten, von einem etwa fünfjährigen Mädchen in schaukelnde
Bewegung gesetzt.
Die alte Dame strahlte vor Freude,
„Unser ältestes Lnkelchen wiegt sein
hier draußen in der frischen, warmen Luft,
wie ungerechtfertigt Deine Befürchtungen
Schwiegertochter hat die Wiege doch ihrer
stimmung übergeben."
So rasch die alten Füße sie trugen, passierte Frau Amalie
das unverschlossene Gartentor und näherte sich in freudiger
Erregung der Wiege.
„Guten Tag, mein liebes Lnkelchen! Schau, was Du für
große Augen machst. Natürlich, Du kennst mich ja noch gar
nicht. Ich bin ja Deine Großmama und werde Dir auch eine
große Düte Bonbons schenken, weil Du Dein Brüderchen so
artig in den Schlaf wiegst. Wie sieht denn das kleine, süße
Engelchen aus?"
Großmamas Sehorgane versagten schon etwas den Dienst,
darum trat sie ganz dicht heran und beugte sich tief über die
Wiege, um in der nächsten Sekunde mit einem durchdringenden
Schreckensrufe zurückzufahren.
Nicht ein rosiges Babygesichtchen, sondern die zähneflet-
schende Schnauze eines feisten Mopses, bis zum Halse sorglich

Alte und neue Zeit.
ls Frau Rentier vanselow den Brief ihres jungverhei-
rateten Sohnes durchgelesen hatte, der die Runde ent-
hielt, daß sie nun bald Großmutter werden würde,
wandte sie sich lebhaft an ihren Gatten: „Du, Vtto, jetzt müssen
wir den jungen Leuten aber schleunigst unsere alte wiege
schicken, damit sie sich nicht am Ende eine neue kaufen."
„Ach! Malchcn," meinte der angehende Großpapa bedenklich,
„laß das abgenützte Gerümpel doch ruhig in der Kammer stehen.
Du kennst doch unsere Schwiegertochter, der ist das altmodische
Möbel sicher nicht elegant genug."
Ja, die Frau Schwiegertochter! Schön und weltgewandt
war sie und so hochgebildet und ganz erfüllt von modernen
Ideen. Hatte sie doch sogar einige Semester in Zürich Medizin
studiert und es dem jungen vanselow immer wieder zu hören
gegeben, welch großes Mpfer sie bringe, indem sie ihm zuliebe
keine Jüngerin der höheren Wissenschaft, sondern bloß simple
Ehefrau werde. Wie unbedeutend und rückständig waren sich
Vater und Mutter vanselows neben ihr immer vorgekommen.
Aber die Wiege, die sich seit Generationen in ihrer Familie
fortgeerbt hatte und als eine Art Familienheiligtum galt, sollte
den jungen Eheleuten doch zugesandt werden; das hatte sich
Frau Amalie nun einmal in den Aopf gesetzt. So trat das
alte Möbel denn eines Tages, repariert und neu poliert, die
Reise nach Fstadt an, dem Wohnsitze des jungen Ehepaares.
 
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