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Meggendorfer-Blätter — 57.1904 (Nr. 693-705)

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Nr. 699
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https://doi.org/10.11588/diglit.20902#0089
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Zeitschrift für chuinor und Aunst

8s

das Glück ist — das wußte Frau Kienapfel ganz
S I / genau. Nämlich, sich nach einem guten und viel-
seitigen Essen auf ein bequemes Sofa zu strecken
und zu träumen.
Gerade heute hätte sie das so wunderschön haben könnenl
Auf einer kleinen Pfingstreise war sie mit ihrem Gatten in
einen: lieblichen Badeort Thüringens eingekehrt; ihr Gasthaus
war wundernett; ihr Zimmer, sauber und behaglich, in einem
Gartenhause gelegen. Wenige Stufen führten zu ihm. Blühende
Kastanien schauten durch das Fenster. Ein kleiner Springbrunnen
rieselte melodisch davor inmitten duftender Blumenbeete. Das
Diner war ausgezeichnet gewesen. Das lebenslustige Ehepaar
in rosenfarbigster Laune. Frau Kienapfel streckte soeben lang
und wohlig auf dem schwellenden Diwan die Arme weit über
den Kopf und sagte so recht aus innerster Befriedigung heraus:
„Matthias! Ich bin glücklich!" — Da plötzlich — als wenn
es einer Bekräftigung ihrer Morte bedurft hätte, erhob sich
nebenan auf der Veranda Gläserklingen und ein dreifaches
donnerndes Hoch schallte durch die Lüfte.
Entsetzt fuhr Frau Kienapfel in die Höhe!
In der Tat: die Gesellschaft
nebenan war sehr lustig. Ein Hoch
löste das andere ab. Dazwischen
ein Lachen, ein Rufen, ein Jauchzen,
ein Scherzen, ein Aufsxringen, ein
Stühlerücken, kurz eine Seligkeit, wie
sie Frühling, Flieder, Erdbeerbowle
und junge Herzen nur immer hervor-
zaubern und durchkosten können.
„Matthias! Du wirst sofort
herumgehen und Dir das verbitten!
Wir sind doch schließlich auch noch
Menschen!"
Herr Kienapfel, ein ruhiger
und sanfter Mann, dem nie in
seinem Leben etwas mehr zuwider
war, als ein Zusammenstoß und eine
Auseinandersetzung mit fremden
Menschen, sucht sie zu beruhigen:
„Liebes Kind! Heute ist der
erste Pfingstfeiertag! Die Leute sind
heiter und ausgelassen. Können
sie dafür, daß die Wand so dünn
ist und daß Frau Kienapfel nebenan
schlafen will? Laß ihnen doch ihre
Freude! Ueberhaupt" — hiermit
suchte er sie schmeichelnd und lockend
abzulenken — „es ist ja eigentlich
eine Schande, einen solchen Tag
im Zimmer faul zu verbringen.
Laß uns in der herrlichen Luft
einen Spaziergang machen! Wir
können ja das verloren gegangene
Viertelstündchen heute nacht über-
reichlich nachholen."
Und nun war das Wunderbare
geschehen! Mochte es der Einfluß
der Festtage sein, der Duft und die
Luft des Frühlings, die angenehmen
Erfahrungen bisher in diesem Gast-
hause — Frau Kienapfel hatte nach-
gegeben, sich erhoben und war ihrem

Gatten in den blühenden und sprossenden Garten und dann
hinaus auf den schattigen jdfad gefolgt, der sich durch saftig
grüne Wälder schlängelte.
Indessen — aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Je mehr
Zeit verstrich, desto weniger wollte es Frau Kienapfel in den
Kopf, daß sie hatte nachgeben müssen. Sie verfiel in tiefes
Sinnen. Grübelnd speicherte sie Groll auf Groll in sich auf.
Wohl mochte der Gatte ahnungsvoll voranseilen — Frau Kien-
apfel zog schweigend und gleich einer drohenden Gewitterwolke
hinter ihm her.
An einer aussichtsreichen Stelle blieb sie plötzlich stehen.
Der Blick in das tiefe Tal löste die Spannung ihres Innern.
Giftig fuhr sie auf ihren Gatten los:
„Aber Matthias! Was fällt Dir denn ein! Mich auf einen
solchen Berg zu schleppen! Denkst Du denn gar nicht an meine
Atemnot?"
„Aber liebes Kind — wir sind ja oben! Sieh nur diesen
herrlichen Rundblick!"
„Rundblick hin, Rundblick her! Ich bin halb ohnmächtig,
habe Herzklopfen, Stiche in den Seiten, Blutandrang nach dem

Unverblümt.

— „Ja, auch mich hat die Keit geändert!"
— „Nun, an Ihnen konnte sie wenigstens nichts verderben!"


Sie muß stch ärgern.
Humoreske von Berthold Kuhnert.
 
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