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LNeggendorfers Humoristische Blätter.
Wein eingeschenktI Gott, was innßte das für ein fürchterliches
Leiden sein, an welchem sie, die Aerinste, die Beklagenswert-
este litt!
Und ein dünnes Papier bloß verhüllt das Geheimnis!
Nnr Gewißheit möchte sie haben, die gequälte, arme Frau, die
sich über ihren Zustand den entsetzlichsten Befürchtungen hingibt.
Ja, was solch versiegeltes Blatt Papier nicht vermag! War
Frau Mathilde vorher schon nervös, jetzt wurde sie's bis zur
Unerträglichkeit. Der Gedanke, daß ihr etwas unendlich Wich-
tiges, was ihre Person betraf, vorenthalten werde, bringt sie
fast außer sich.
Ihr Entschluß ist bald gefaßt.
In der Einsamkeit ihres Boudoirs, welches sie sorgfältig
verschließt, trennt sie mit einein haarscharfen Federmesser das
beleidigend rote Siegel kunstvoll ab. Gummiert ist der Bries-
umschlag nicht.
In den zitternden Fingern hält sie einen mehrfach zusam-
mengefalteten Bogen.
Sie breitet denselben auseinander. Stier haftet ihr Blick
auf der ersten Seite. Sie wendet das Blatt.
Röte und Blässe wechseln aus ihrem Antlitz. Nun ist's
genug! Nit unterdrücktem Schluchzen legt sie das Papier in
den Umschlag zurück uud klebt das Siegel mittelst eurer roteu
Gblate sorgsam an seinen Grt.
Reine Spur verrät, daß die Patieutin das Geheimnis des
ärztlichen Briefes verletzt habe. —
Vieruudzwanzig Stunden später wird das Feldnersche paar
von Professor Flechtenhauer, der Autorität der Residenz, em-
pfangen, welcher die Patientin zunächst einer ganz eingehenden
Untersuchung unterwirft. Rein Laut über das Wesen der Krank-
heit entschlüpft dabei seinen Lippen.
Merkwürdig, jetzt, da die Diagnose aus Ror^phäenmund
unmittelbar zu erwarten steht,
ist Frau Mathilde eigentlich recht
gefaßt und thatsächlich nur
mehr neugierig, durchaus nicht
ängstlich.
Ihr Gatte betrachtet ihre
Ruhe mit bewundernden Blicken.
Ihm ist schwül. Was wird der
Professor für einen Ausspruch
thun, nachdem er des Sanitäts¬
rats Bericht durchstudiert, mit
welchem er sich bereits vor einer
Viertelstunde in sein Privat¬
zimmer zurückgezogen, augen¬
scheinlich, um über alle Even¬
tualitäten des schwer zu dia¬
gnostizierenden Leidens mit der
nötigen Muse nachzudenken.
Da endlich tritt er wieder
ein. Sein Blick ist ernst, doch
läßt er noch poffuung zu.
Lauge Zeit hastet sein Auge
auf dein entfalteten Papier,
von welchem das kommerzieu-
rätliche Paar nur die vierte, un¬
beschriebene Seite zn Gesicht
bekommt.
„was Ihr Pausarzt mir
berichtet," beginut die Kapazität
dann in salbungsvollem Tone,
„beweist mir, daß wir in dem perrn Sanitätsrat einen durch-
aus vertrauenswürdigen Arzt vor uns haben. Der perr weiß,
was er will, und ich stimme seinen Ansichten völlig bei, die von
tiefem medizinischem Wissen und einer abgeklärten, durchdring-
enden Menschenkenntnis Zeugnis geben. Sie sind in guten
pänden, gnädige Frau. Schenken Sie Ihrem Pausarzte nur
ferner Ihr Vertrauen und geben Sie sich den besten poffnungen
auf baldige Genesung hin. Der Behandlungsplan, welchen der
perr Kollege mir da entwirft" — dabei fixierte der Professor
angelegentlich wiederum das ominöse Papier — „hat meine
ungeteilte Zustimmung. Sie würden mich verbinden, wenn Sie
dies dem perrn Sanitätsrat nebst einer kollegialen Empfehlung
von mir mitteilten."
Wie von einer schweren Last befreit, atmete Frau Mathil-
dens Gatte auf.
Daun entnahm er seiner Brieftasche eine größere Banknote,
die er diskret auf eine Tischecke placierte und das paar verab-
schiedete sich von der Leuchte der Wissenschaft.
Auf der Straße angelangt, lachte die Frau Rommerzienrätin
krampfhaft auf.
„Was ist Dir, Liebste? Um des Pimmels willen, was
hast Du?"
„Ich? — Ach diese Infamie, diese unglaubliche Felonie,
Alfred!"
„Ich verstehe Dich nicht, mein Perz, was meinst Du denn?"
„Schilt mich nicht, Alfred, aber — ich hatte heimlich das
versiegelte Louvert geöffnet, und, weißt Du, was — es —
enthielt?" —
„Nun?"
„Einen — leeren — Bogen!"
Scheinbarer Widersprach.
Verantwortlicher Redakteur: Max Schreiber. Druck und Verlag von I. F. Schreiber in Eßlingen bei Stuttgart.
Geschäftsstelle in München, Schubertstraste 6.
LNeggendorfers Humoristische Blätter.
Wein eingeschenktI Gott, was innßte das für ein fürchterliches
Leiden sein, an welchem sie, die Aerinste, die Beklagenswert-
este litt!
Und ein dünnes Papier bloß verhüllt das Geheimnis!
Nnr Gewißheit möchte sie haben, die gequälte, arme Frau, die
sich über ihren Zustand den entsetzlichsten Befürchtungen hingibt.
Ja, was solch versiegeltes Blatt Papier nicht vermag! War
Frau Mathilde vorher schon nervös, jetzt wurde sie's bis zur
Unerträglichkeit. Der Gedanke, daß ihr etwas unendlich Wich-
tiges, was ihre Person betraf, vorenthalten werde, bringt sie
fast außer sich.
Ihr Entschluß ist bald gefaßt.
In der Einsamkeit ihres Boudoirs, welches sie sorgfältig
verschließt, trennt sie mit einein haarscharfen Federmesser das
beleidigend rote Siegel kunstvoll ab. Gummiert ist der Bries-
umschlag nicht.
In den zitternden Fingern hält sie einen mehrfach zusam-
mengefalteten Bogen.
Sie breitet denselben auseinander. Stier haftet ihr Blick
auf der ersten Seite. Sie wendet das Blatt.
Röte und Blässe wechseln aus ihrem Antlitz. Nun ist's
genug! Nit unterdrücktem Schluchzen legt sie das Papier in
den Umschlag zurück uud klebt das Siegel mittelst eurer roteu
Gblate sorgsam an seinen Grt.
Reine Spur verrät, daß die Patieutin das Geheimnis des
ärztlichen Briefes verletzt habe. —
Vieruudzwanzig Stunden später wird das Feldnersche paar
von Professor Flechtenhauer, der Autorität der Residenz, em-
pfangen, welcher die Patientin zunächst einer ganz eingehenden
Untersuchung unterwirft. Rein Laut über das Wesen der Krank-
heit entschlüpft dabei seinen Lippen.
Merkwürdig, jetzt, da die Diagnose aus Ror^phäenmund
unmittelbar zu erwarten steht,
ist Frau Mathilde eigentlich recht
gefaßt und thatsächlich nur
mehr neugierig, durchaus nicht
ängstlich.
Ihr Gatte betrachtet ihre
Ruhe mit bewundernden Blicken.
Ihm ist schwül. Was wird der
Professor für einen Ausspruch
thun, nachdem er des Sanitäts¬
rats Bericht durchstudiert, mit
welchem er sich bereits vor einer
Viertelstunde in sein Privat¬
zimmer zurückgezogen, augen¬
scheinlich, um über alle Even¬
tualitäten des schwer zu dia¬
gnostizierenden Leidens mit der
nötigen Muse nachzudenken.
Da endlich tritt er wieder
ein. Sein Blick ist ernst, doch
läßt er noch poffuung zu.
Lauge Zeit hastet sein Auge
auf dein entfalteten Papier,
von welchem das kommerzieu-
rätliche Paar nur die vierte, un¬
beschriebene Seite zn Gesicht
bekommt.
„was Ihr Pausarzt mir
berichtet," beginut die Kapazität
dann in salbungsvollem Tone,
„beweist mir, daß wir in dem perrn Sanitätsrat einen durch-
aus vertrauenswürdigen Arzt vor uns haben. Der perr weiß,
was er will, und ich stimme seinen Ansichten völlig bei, die von
tiefem medizinischem Wissen und einer abgeklärten, durchdring-
enden Menschenkenntnis Zeugnis geben. Sie sind in guten
pänden, gnädige Frau. Schenken Sie Ihrem Pausarzte nur
ferner Ihr Vertrauen und geben Sie sich den besten poffnungen
auf baldige Genesung hin. Der Behandlungsplan, welchen der
perr Kollege mir da entwirft" — dabei fixierte der Professor
angelegentlich wiederum das ominöse Papier — „hat meine
ungeteilte Zustimmung. Sie würden mich verbinden, wenn Sie
dies dem perrn Sanitätsrat nebst einer kollegialen Empfehlung
von mir mitteilten."
Wie von einer schweren Last befreit, atmete Frau Mathil-
dens Gatte auf.
Daun entnahm er seiner Brieftasche eine größere Banknote,
die er diskret auf eine Tischecke placierte und das paar verab-
schiedete sich von der Leuchte der Wissenschaft.
Auf der Straße angelangt, lachte die Frau Rommerzienrätin
krampfhaft auf.
„Was ist Dir, Liebste? Um des Pimmels willen, was
hast Du?"
„Ich? — Ach diese Infamie, diese unglaubliche Felonie,
Alfred!"
„Ich verstehe Dich nicht, mein Perz, was meinst Du denn?"
„Schilt mich nicht, Alfred, aber — ich hatte heimlich das
versiegelte Louvert geöffnet, und, weißt Du, was — es —
enthielt?" —
„Nun?"
„Einen — leeren — Bogen!"
Scheinbarer Widersprach.
Verantwortlicher Redakteur: Max Schreiber. Druck und Verlag von I. F. Schreiber in Eßlingen bei Stuttgart.
Geschäftsstelle in München, Schubertstraste 6.