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Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschr. für Humor u. Kunst — 39.1899 (Nr. 458-470)

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https://doi.org/10.11588/diglit.20267#0010
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Meggendorfers Humoristische Blätter.

Gaunerstandpunkt.

— „Mie, Dein Iiingster schlägt sich ehrlich durch die Welt?"
Alter Gauneri „Ia — der uerlorene Sohnl"

Zer schlechte Alenfch.

Line Erzählung für höhere Töchter von Reinhard Bnlker.

ie war lieblich und schlank wie die Lilie des Feldes, jene
Lilie, die nicht säet und nicht erntet, und Gott ernähret
sie doch; Taillenweite 52'/^ in der Moche, Sonntags
Sf^/s, kjandschuhnummer ZV» (Fohlenleder sechsknöpfig), ein
Schuhchen dazu, so allerliebst enge, daß niemand begrisf, wie
ein Menschenfuß darin Platz haben könne.

Wenn man serner bedenkt, daß sie Tlse hieß und neulich
zwei Eier eigenhändig gckocht hatte, ganz allein und ohne lhiilfe
der Aöchin, daß sie Thopin nur so voin Blatte spielte, daß
endlich der väterliche Geldschrank einige Tausend Bierbrauerei-
prioritäten umschloß, so wird man es nicht nrehr verwunderlich
finden, daß sie auf dem letzten Balle bis zur S2sten (in Buchstaben:
zweiunddreißigsten) Lxtratour wie im ksandumdrehen engagiert
war und daß selbst die Ldelsten der Garde es nicht verschmäht
hatten, sic im Aotillon malerisch zu umflattern.

Und wie konnte man sich mit ihr unterhaltenl Mas, glaubt
kaum, was sie alles qelesen hatte: den Iulius Wolf und den
Baumbach und die neueste Rangliste und Lbers sämtliche Werkel
Auch xlauderte sie mit tiefem Berständnisse iiber die „Utodernen",
schwärmte vom Uebermenschen und hatte nculich sogar der
Romanzeitung ein selbstgelegtes pöem zugeschickt.

Es war wirklich eine jdracht, und die Leutnanis und
Referendare waren eitel Bewunderung.

Aber keiner fand Gnade vor ihren Augen, denn im Grunde
genommen war sie eine ehrliche ksaut und das kserz saß dort,
wo es hingehört.

Da ging sie zu einer weisen Frau »nd ließ sich die Aarten
legen.

Und die Alte besah sich das Pflänzchen, mischte und legte
die Aarten:

„Menn Du die Lngel einmal singen hörst, dann
kam der Rechte!"

Und die Iungfer ging heim, grübelnd iiber den Spruch,
und ihre Ruhe war hin.

Und cs kam einer nach dem andern und versuchte sein
Glück. Der eine slötete, der andere „äbbah"-te, dcr drittc begoß
sie mit den süßesten selbstgemachtcn Sonettcn, und sie gab
sich redliche Mühe und lauschte, aber kcin Lngelein wollte an-
heben zu singen.

Nur der eine, der ihr von jeher cin Dorn im Auge ge-
wesen war, that noch iimner als wäre sie Luft. Aühl und
lässig warf er ihr ein paar Silbcn hin, wenn er mußte, und
dann ließ er sio wieder stehen.

Lr hatte gcwiß kein kserz und war cin ganz schlechter
Menschl Und sie crtapxte sich eines Tages darübcr, daß sic
geweint hatte.

Doch bei der nächstcn Gesellschast fügie es sich, daß sic ihm
gegcnüber zu sitzen kam, und sie ergriff die Gelegenheit, ihm
einmal gründlich zu imponieren, und strcute das ncuste Bonmot
Nietzsche betreffend, über die Tafel.

Lr aber lächelte spöttisch, und ihr blieben die feinston Be-
merkungen im ksalse stecken.

Und so saßen sie sich stunim gegenüber. — Da merkte er
xlötzlich, wie unterm Tische ein kleiner, ganz allorliebster Fuß
mit seinem heimlich zusammenstieß, that aber gar nicht dcr-
gleichen, strich den Schnauzbart und gab, schlecht wie er war,
dem armen unschuldigen Füßchen einen herzhaften Tritt auf
die lsühneraugen.

Und es ist heute noch unaufgeklärt, was in das gute Mäd-
chen gefahren war, als sie plötzlich emporsprang und schluchzend
hinaushinkte. „Ich höre sie singen, ich höre siesingenl"
heulte sie draußen.

Auch er war hinausgelaufen.

Aber die Gesellschast vcrwunderte sich noch viel mehr, als
fünf Nkinuten darnach die Thüre sich aufthat und das arme
kserzchen wicder hereintrat, lächelnd unter Thränen, und neben
ihr, zärtlich den Arm um sie schlingend — der schlechte
Mensch.
 
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