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Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschr. für Humor u. Kunst — 41.1900 (Nr. 484-496)

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https://doi.org/10.11588/diglit.20910#0075
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Meggendorfers Humoristische Blätter.

67

Äch (Kott!


Richtcri „Mie vieie Aüffe hat Ihnen der tsandwerksbursche gegeben?"
Zeugin: „Ach Gott, nur einen, Lsecr Richterl"


zwölf, dreizehn Iahre her. Und damals, in der vorausgegang-
enen Nacht, dieselben Zeichen und dasselbe unheimliche Rütteln
am Fenster. Noch läuft ihr die Gänsehaut über den Leib, wenn
sie daran denkt, wie sie die Füß' hinauf'zogen und den Aoxf
unter die Decke g'steckt hat und wie sie so dag'legen ist in Ster-
bensangst, bis sie endlich eing'schlafen ist. Den nächsten Tag
war das Telegramm da. Ihre Niutter war plötzlich gestorben.
Ia, so ein Telegramm ist wirklich nur dazu da, um einem rascher
ein Unglück beizubringen l Aopsschüttelnd marschiert sie in die
Küche hinaus. Nach einigen Minuten kommt sie wieder zurück.
Es leidet sie nirgends. So wandert sie beständig hin und her,
legt hie und da ein Scheit in dem Dfen nach und wirft von
Zeit zu Zeit einen ängstlichen Blick auf die Uhr. Der große
Zeiger kriecht wie eine Schnecke um die Ziffern herum. Trotz-
dem hat er schon zweimal die Runde gemacht und der Doktor
war noch nicht da.

G'rad' heut' muß er so lang ausbleibenl

Sie geht wieder zum Fenster, drückt ihren Aops an die
Lcheibe und schaut am ksauptplatz hinauf und hinunter. Nirgends
ein Schlitten sichtbar. Ulit einem Seufzer dreht sie sich um und
wischt stch das Wasser aus dcn Augen. Ihre Sehnerven ver-
tragen das Schneelicht nicht mehr.

Und da lehnt sie nun an der Fensterbrüstung und grü-
belt und martert ihr armes Gehirn. Immer muß sie an das
Telegrainm denken. Sie wagt gar nicht mehr, aus den Tisch
hinzuschauen. Es ist ihr, als ob das Unglück aus dem Papier
steigen und Besitz ergreifen will von dem, was um sie liegt
und steht und ihrein lherrn lieb geworden ist. Und dann packt
sie wieder eine grenzenlose Neugier, was denn wohl drinnen
stehen inag.

Menn sic es wüßtel Sie könnte den Doktor leichter vor-
bereiten . . .

Sie fühlt auf einmal eine mütterliche Araft in sich, zu trösten.

„Ls ist auch ihre Pflicht," das sagt sie sich plötzlich und
greift resolut nach dem Telegramm. Sie muß es wiffen l

Sie preßt das zusammengefaltene Papier an die Fenster-
scheibe und hebt den losen Teil emxor. In demselben Augen-
blick fährt unter hellem Schellengeläute ein Schlitten vor. Mit
einem „Iesus Maria" taumelt sie zurück, wirft das Telegramm
auf den Tisch und sxringt mit drei, vier Sätzen zur Thüre hinaus.

Der Doktor, eine große, schlanke Gestalt, steht bereits im
vorhaus und schüttelt gerado den anhaftenden Schnee vom pelz,
als die lvirtschafterin mit dem Rufe „kserr Doktor, lserr Doktorl"
aus ihn zustürzt.

„lvas gibt's denn?" fragt der Doktor und blickt verwun-
dert in das versiörte Gesicht der Alten.

„ihaben S' ein Malheur g'habt, lvally, oder ist was
Dringendes —"

„Nein, nein, bserr Doktor, das nicht," kommt es atemlos
aus ihrem Mund. „Lin Telegramm ist da, schon seit zwei
Stunden."

„So — I" Er schiebt sie zur Seite und tritt erregt ins
Zimmer. (girälende vermutungen durchkreuzen blitzschnell seinen
Aoxf. „Sollte sein alter vater —"

Er tastet hastig nach dem Telegramin. Atit einem Griff
durchreißt er den verschluß. Schon will er es öffnen, da be-
besinnt er sich plötzlich und xrüft zuerst den Aufgabeort.

„Linz." Das beruhigt ihn. von seiner lheimat war es nicht.
Er entfaltet es nun rasch und überfliegt die wenigen Zeilen.

lvally, die während dieser bangen Minuten bebend und
 
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