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Meggendorfers humoristische Blätter: Zeitschr. für Humor u. Kunst — 48.1902 (Nr. 575-587)

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https://doi.org/10.11588/diglit.16550#0080
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Meggendorfer-Blätter, Blünchen

Alenschen.

1 ch bin lange nicht mehr drnnten auf der Lrde gewesen,"

^ sprach eines Tages der Meltenschöxfer zu einem seiner
Lngel, „geh' Du einmal dorthin und sieh zu, mie es
steht mit den Menschen!"

„vater, darf ich nicht mit?" fragte da ein kleines Lnge-
lein bittend, „ich möchte auch gern INenschcn sehen."

Da lächelte der Vater der Welten und sprach: „Wenn Gab-
riel Dich mitnehmen will, so mag es sein."

Gabriel nickte sinncnd, verneigte sich vor dem therrn und
faßte das Tngelein bei der ksand.

So stiegen die beiden hinunter auf die Lrde.

5ie kamen zunächst auf einen großen Platz, auf dem man
gar merkwürdige Dinge erblickte. Fauchende Maschincn fuhren
mit Getöse hin und her, daneben sah man auf zwei Räder ge-
spannte Geschöpfe dahinsausen, auf einer andern Seite flog ein
Riesenball hin und her und die Leute rannten und traten sich
mit den Füßen auf Beine und Bauch, nebendran floß Blut
— es waren da Boxer und andere Aämpfer, die aufeinander
losschlugen, und daran vorbei schossen auf einem Aanale pfeil-
schnell riesige Spindeln, in denen halbnackte Männer ein selt-
sam lhandwerk zu treiben schienen, als wollten sie Tentaurcn
entfliehen, die neben ihnen auf der Erde hinjagten.

Verwundert schaute das Lngelein das alles und vieles
andere an und fragte endlich seinen Begleiter: „Sind das
Menschen, Gnkel Gabriel?"

„Nein," erwiderte dieser, „das sind 5p ortsleute." —

Da gingen die beiden weiter und kamen vor eincr Stadt
an einen großen bsof. Lsier sah man viele bunte Männlein im
Takte allerhand Bewegungen ausführen, starr und steif, als ob
sie von lholz wären und ihre Glieder alle an einer Schnur ge-
zogen würden, während andere dabeistanden und mit furcht-
barer Stimme brüllten und schalten.

„Sind das Rlenschen, Vnkel Gabriel?" fragte das Tnglein
seinen Begleiter.

„Nein," erwiderte dieser, „das sind Soldaten." —

Darauf gingen sie durchs Thor in die Stadt, und um sich
von dem langen bvege etwas zu erfrischen, traten sic in ein
Aaffeehaus. Dort aber fanden sie eine seltsame Gesellschaft,
dio einen großen Tisch beseht hielt. Da waren alte Männer
mit wirren bsaaren, durch die sie mit den lhänden ebenso oft
wie durch ihre langen Bärte fuhren, grimmige, gedankendurch-
furchte Gesichter mit überlegen sinnenden Augon; daneben saßen
junge, blasse, scltsam aufgeputzto Bürschchen mit hohen weißen
Kragcn, langen spitzen Stiefeln; so müdc sahen sie alle aus,
die jungen wie die alten, und kein wort sprachen sie zu ein-
ander, aber innerlich heftig bewegt schienen sie alle, und hie
und da seufzten sie einander die Ahnung eines Gedankens zu
oder krümmten sich von Ideen, die nicht geboren wcrden konn-
ten. Lange sah das Lngelein verwundert und ein wenig scheu
hinüber; dann fragte es seinen Begleiter:

„Sind das Menschen, Gnkel Gabriel?"

„Nein," erwiderte dieser, „das sind Uebermenschen." —

Darauf verließen die beiden das Aaffeehaus und kamen
alsbald in ein großes Gewühl. Ls war Mittagszeit, und sic
hatten Mühe vorwärts zu kommen durch das dichte Gedränge
der ihnen entgegenflntenden, hastenden Menge.

„Aber das sind doch Menschcn?" fragte das Lngelcin
wieder. Gabriel lächelte. „Das sind Berufsgeschöpfe," ant-
wortete er, „man nennt sie Aaufleute, Beamte, Arbeiter und
sonstwie. vielleicht sind auch einige Menschen darunter, aber
das kann man jetzt nicht sehen; was sie aber sonst sind, das
sieht man einem jeden gleich an."

„Ia, was sind nun aber Menschen?" fragte da das Lngc-
lein ungeduldig.

„Menschen sind nicht," antwortete sein Begleiter ernst,
„Menschen waren, vor langen Zeiten, als noch alles einfach
und schlicht war nnd das rote Gold nicht so nnter ihnen rollte,
der Dampf sie nicht so schnell auseinander und wiedcr zusammen
und wieder auseinanderriß. Die Geschöpfe von heut' sind ihre
Nachkommen und haben es fast alle verlernt, Menschen zu sein
über dem vielen andern, was sie scin müssen und noch mehr
über dem, was sie scheinen müsscn. Nur hie und da besinnt
sich einer und bringt es fertig, zu allem andcrn anch noch ein
wenig Mensch zu sein."

Gabriel wollte noch wciter reden, aber da waren die beiden
plötzlich umringt von einer jubelndcn, lärmendon Schar Ainder,
die aus einem großen lhauso kamcn, das riesige Fenstor hatte.

„wer sind denn die?" fragte das Lngelein erstaunt, „stnd
das nicht meine Brüdcr und Schwestern?"

„Siehst Du," crwiderte Gabriel freundlich, „das sind noch
Menschen, oder sie könnten's wenigstens werden; aber sie
müssen's in jenem großen Lause verlernen, damit sie vorwärts
kommen in der Welt."

Abcr das Lngelein hörte nicht mehr auf ihn, es sprang
schon mit einigen Aindern dahin und jubelte mit ihnen. Nach
wenig Minuten läutete eine Glocke, und die Ainder stürmten
alle wiedcr in das große bjaus. Da stürmte das Lngelein auch
mit, denn es hatte gar große Lust zu sehen, wie cs da drinnen
zugehe. Bald saß es mit vielen andern in einem weiten Saal
und wunderte sich, wie still auf einmal alles war und wie sic
alle ringsum dasaßen, die Lsändlein glatt auf die Bank gelegt,
das Aörpcrlein gerade aufgerichtet, die Augen starr nach vor-
wärts schauend. Ls probierte, das nachzumachen, aber es
gelang seinen dicken runden Aermchen nicht. Und da stützte
es denn die Lllenbogen auf, legte das Ainn in das eine bsänd-
lein und sah zu den schönen Bildern an der Decke hinanf. Da
kam aber jemand zur Thüre herein, ein Mann mit runzligem
Gesicht, in dem eine mächtige Brille saß. Der schaute mit deu
großen Glasaugen über dio Bänke hin und fuhr gleich wie
wild auf den kleinen Lindringling los.

„Vart, Du Lümmell" schrie er und packte die kleinon
Aermlein, die er mit Wucht auf die Bank anfstieß, bis sie in
der richtigen Lage waren.

Das Lngelein erschrak ins kleine bserz hinein und bekam
die Augen voll Thränen. Aber es muckste nicht; es wollte
bei den vielen Aindern dableiben und hören, wie es znginge
bei den Menschen.

Ls verstand aber gar nichts von dem, was der strengc
Mann an der Tafel alles rechnen ließ. Lin Glück, daß es
nicht selbst aufgerufen wurde, sonst hätte es wohl auch Tatzen
bekommen wie ein Utädelein, das sich draußen nicht zu helfen
wußte. Als dieses laut aufschrie, wurde dem Lngelein so bang
und weh, und es konnte auch kaum mehr atmen — es war ja
himmlische Luft gewöhnt, und die hier war ganz anders als
 
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