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Lothar Meggendorfers humoristische Blätter — 15.1893 (Nr. 144-154)

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https://doi.org/10.11588/diglit.20273#0008
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L. Meggendorfers ^umoristische Blätter.

Reiselektüre.

Polka; und es ist so unendlich schwer, vor den Lltorn dieser
blaucn Augen zu bestehen, weun man außer der erträglicheu
Figur nichts besiht als ein monatliches Gehalt von ;eo INark
und monatliche Wünsche sür 200. Und die augenscheinlicho
Aonkurrenz, welche mir Mnkel Inlius bei der Mama machte,
war auch nicht geeignet, mein Selbstvertrauen zu erhöhen. Ge-
trieben von meiner Liebe und zurückgehalten von meiner 5cheu
hattc ich nicht vorwärts gemocht und nicht rückwärts gekonnt;
hattc ich dem Töchterchen Briefe voll eifersüchtiger Alagen gc-
schricben uud war der Ulutter aus dem wege gegangen wie
eincr bösen Urankheit. War es da ein wunder, daß sie zuletzt
unterlegen, da sie sich von mir verlassen, ohne Unterstützuug
sah? Und sie liebtc den verräter noch. T>as bewies dieser Brief.
ksoffte sie vielleicht noch aus eine rettende That des Foiglings?
ksätte sie sonst dio Adresse der Tante Luise an den Rand ge-
kritzelt? V dicse Adressel Sio machte alles klar. Lotte war
kühn; ich wnßte es. Sie hätte um meinctwillen der ganzen
verwandtschast den Handschuh hingeworfcn, wenn ich es ihr
uur hätto zumuten wollen. Uud dieser Brief, der mir anfangs
soudcrbar erschicncn war, er war jeht so durcksichtig verständ-
lich. Das war ihr letzter Fluchtversuch, ihr letzter ksilferuf, ehe
sie iu Gnkel Iulius Armen versank. Also vorwärts, nach Uölnl
Ich war wie umgewandelt. Die ganze Vcrwegenheit, die dcr
Stand der ksaudlungsreisenden in seinen Bertretern großzuziehen
xslegt, war micder in mir erwacht. Ging denn dieser eutsetzliche
Zug noch nicht ab?

Da läutete es zum ersten Male. Zugleich trat ein junger
kNaun ans dem mittlcren Durchgang auf den Bahnsteig. Uloi-
dung und Musterkoffer, ksaltung nud Bewegung wiesen ihn
unzweifelhaft als den fahreuden Sänger feiuer Buxkiustoffe aus.
Lin ksoteldieiicr folgte ihm auf dem Fuße, lebhaft gostikulierend
und eindringlich redend, als ob er sich in Lntschuldigungen er-
ginge. Nach jedem dritten Schritt drehte sich der junge lNaun
um und warf dem Nachfolgenden eine Grobheit an den Uopf.
Der Bnrsche stcckte sie mit derselben lluterwürsigkcit ein wie ein
Triukgeld und fuhr fort, sich zu entschuldigen. Da der Schaffner
in diesem Augeublick an mein Toups herantrat, um die Thüre
zu schließen, steuerte der juugo Nlann unverzüglich hcrzu, sticg
ein ohne zu grüßen, brachte seincn Uoffer in dem Netz unter
nnd warf sich iu die hinterste Lcke. Der ksotelbedienstete dräugte
sich noch einmal an die Thüre.

„Sie werden mir doch keine llnaiigclegeiiheiteii machen,
kserr Lehmanii?" sagte er in bitteudem Tone.

„Gehen Sie, gehcn Sie l" entgegnete kserr Lehmann wütend.
„Ich werdo Ihren Lhef benachrichtigen."

Dcr Bursche trat zögerud zurück, der Schaffuer schlug die
Thüre zu und mir waren allein.

kserr Lehmaun schien sehr erregt. Lr zerrte an seinem
kleiueu schwarzeu Schuurrbart, hob nnd senkto dio Augenbrauen
und klopfte mit seiuon breiten slachen Stiefelabsätzen emsig wie
ein Baumspecht an das kseizungsrohr unter der Bank. Ich
betrachtete ihn mit llufmerksamkcit und grübelte darüber nach,
was ihn wohl aus dem Gleichgcwicht gebracht haben mochte.

Ls läutete znm zweiten lllale und die Trillerpeife des
Zngführers ertöute. kserr Lehmann sprang auf,-drängte sich an
mir vorüber und lehnte sich zum Fenstcr hinaus. Plötzlich
zuckte er zusammen und erhob ein lautes Indianergehcul. Da-
bei bog er sich so weit aus dem Feuster, daß ich mich in Bereit-
schaft setztc, ihn bei don Beiuen zu ergreifcn, iveiin er fallen
sollte. Aber cr fiel nicht. Lr fuhr vielmehr so hastig zuriick,
als ob er eiuen Schlag erhalten hätte, uud stieß mit dem ksintcr-
kopf wider den Fensterrahmen. Ls dröhute ordentlich. Ich
weiß uicht, ob das der Uopf machte oder der Rahinen. Scin

Gesicht zeigte den Ausdruck höchften Lrstauneiis. In demselben
Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung.

„lllas sagen Sie dazu?" mandte er sich ganz verdutzt zu
mir, indem er den Schädel rieb.

„lVozu?" fragte ich freuudlich.

„Iaso," besann er sich. „Deuken Sie! lvährend ich gehe,
eine Fahrkarte zu lösen, stellt dieser Lsel von einem ksotclburschen
meiiien Uoffer und meine kleine Ledertasche in den Durchgang
und verschwindet, der ksimmel weiß wohin. Diese Leute haben
immer Neboiibcschäftigungen. Als ich zurückkomme, finde ich
nur meinen lllusterkoffer noch vor. Bursche uud Tasche waren
fort. Der Bursche kam ivieder zum Vorschein, wie Sie gesehen
habeu. llleiue Tasche nicht."

„Aergerlichl" sagte ich mitleidig.

„Ia," fuhr er fort, „hören Sie weiter I lvie ich mich socben
zum Fenster hinauslehnc, sehe ich deu Zug eutlang in höchster
Lile einen kserrn laufcn, der meiue Tasche trägt. Ich keune sie
unter tausenden heraus. Sie haben mich schreien hören. Der
kserr auch. Lr drehte sich uin, bemerkte mich und schwang die
Tasche mit eiuer sonderbaren Geberdc, ich weiß nicht, ob sie
droheud oder triumxhieroiid sein solltc."

„ksöchst sonderbar," schaltete ich ein.

„G wir wollen schon dahiuter konimen," sagte er eifrig.
„Ich habe mir genau das Loups gemcrkt, in welches er gestiegen
ist. In Siegburg werden wir ihn findeu."

„Der Jnhalt der Tasche war vou lvert?" fragte ich teil-
nehmend.

Lr lächelte auf eine höchst eigeiitiimlichc lveise, indem er
den lNnnd wie zu einem Unsse spitzte. Lr schien damit eine
sehr pikaute Lnthüllung vorbereiten zu wollen. Nachdem cr
so meine Neugierde crregt hatte, ließ or sich mir gegenüber
nieder, streckte die Beiue weit von sich, legte den Uopf an die
lvand zurück und sagte langsam: „Ls war ein getragener ksemd-
kragen darin und meine Reiselektüre."

Ich mußte ein recht enttäuschtes Gcsicht gemacht haben,
denn er richtete sich mit einem Ruck auf, und indem er mir
mit dor slachon ksand anf das Unie schlug, daß es empfindlich
schmerzte, schrie cr: „Aber was für eine Lektüre I Ich sage
Ihnen —I" und er spitzto wieder den Nund.

„Ich muß Ihnen das erzählen," sagt er dann ruhiger.
„Ich fuhr heute in allcr Frühe von lllainz nach Uoblenz. Ich
saß mit einem etwa vierzigjährigen kserrn zusammen, in dessen
Begleitung sich ein reizeudes jnngcs lllädchcn befand. Die
Beiden rvaren sehr vertraut. lvenigstens bemühte er sich eifrig,
sie einem stillen Uummer zu entreißen, in dem sie befangen
war; und sie schien ihm dankbar zn sein. Ich machte mir iiber
das Pärchen meine eigenen Gedanken. llnd ich wäre ganz
von der Richtigkeit meiner vermutuiigen überzengt gewesen,
wenn die junge Dame nicht plötzlich aus einer ksandtasche ein
Bündel Briefe hervorgezogcn nnd zu lesen begonncn hätte.
Das machte mich stutzig. Noch geheiinnisvoller wurde mir die
Sache, als ich sah, daß sie sich unter dem Lesen hcimlich eine
ganz kleine Thräne aus dem Auge wischte. Ls hätte dessen
nicht bedurft, nm nieiue Neugierde nach dem Inhalt der Briefe
wachzurufen. Aber diosolbe wurde dadnrch auf einen bedenklichen
ksöhepunkt gebracht. Ich habe eine Schwäche für anderer
Leute Briefe. lvenn ich Postbeamter geworden wäre, hätte
ich wahrscheinlich im Zuchthans geendet. Aber ich kann mir
nicht helfeu. llleine Phautasie wird allmächtig angeregt durch
solche Blicke in das vcrborgenste Lcben unbekannter lllenschen.
Ich spinne das Gelesene aus nach meiiiem Belieben. Ich er-
gänze die vorgcschichte, ich erfinde oine Uatastrophe, und diese
Thätigkeit macht mich glücklich. Ich glaube, es schluinmert ein
 
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