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L. Neggendorfers Humoristische Blätrer.


Die ^vrrrktur.

lotilde,
ein junges,
hübsches Nädchen, die
Tochter eines geachteten
Beamten der Ztadt, war
mit dem angesehenen und
als sehr vermögend geltenden
Eutsbesitzer Baron R. verlobt.

Vor einem Iahre der Pension
entschlüpft, glaubte sie in diesem
Institute alle jene Renntnisse gesammelt
zu haben, welche ein Mädchen befähigen,
einen Nann glücklich zu machen. Tie Lltern
waren natürlich mit diesem Vorhaben um so
mehr einverstanden, als die Anwesenheit von^,
noch drei anderen unverheirateten Schwestern dcn
dunklen Punkt in der Kamilie bildcte. klotilde, gut
und wohlerzogen, wie sie war, konnte zu der Der-
lobung nicht Nein sagen, zumal man ihr in dis-
kretester Weise mitgeteilt, Baron R.'s Alter werde
bei weitem durch die Anzahl Causender übertroffen,
welche er sein eigen nenne; so kam es, daß Rlotilde
ihren Verlobten in der Chat lieb gewann.

Cie Neigung des Berlobten zu seiner hübschen
Braut äußerte sich natürlich in vielen kostbaren Ee-
schenken und in mindestens gleichwertigen Briesen,
in welchen der Abwesende seiner Liebe Ausdruck gab.

Rlotilde, die gerade thätig war, einen dieser
Liebesbriefe mit derselben Aärtlichkeit zu beant-
worten, vollendete soeben den Catz: „Cich zu besitzen, ist
mein einziger Alunsch auf Lrden!" Ciesem Ausslusse

der höchsten
Teidenschast
mußte naturgemäß
eiue kleine Ruhepause
solgen; die Heder ruhte,
Alotilde begann zu träumen:
Siesah sich alsglückliche Srau
an der Sciteihres Eeliebten, mit
dem sie Theater, Aonzerte nnd
andere Lustbarkeiten bis zur kleber-
s ättigung bes uchte; sie sah sich an s einem
Arme im Ballsaale, überall Lrstaunen
undBewunderungderAmvesendenerregend
ob der Pracht der Coilette und ihrer eigenen
Lchönheit; wo sie sich zeigte, war sie Ballkönigin
und erweckte denAeid und Aerger der^reundinnen,
dencn es nicht vergönnt war, eine solche Partie wie
sie zu machen. — „2st doch mein Verlobter die Güte
selbst," dachte sie bei sich, „liebt er mich doch zu auf-
richtig und innig, als daß er meinem Munsche, die
kurze Aeit der Iugend fröhlich zu verbringen, nicht
willfahren sollte! A)ie glücklich werde ich sein, solch'
einen Nann zu besitzen!" — Coch plötzlich fiel Alotil-
den die Heder aus der Hand, ihre Miene trübte sich ein
wenig, der schönc Traum war ausgeträumt. — „Auch
die besten Nänner sind ost sehr wunderlich," sprach
sie bei sich selbst, „ost schon hat ein unüberlegtes Wort
das Glück der Lhe fortgescheucht — darum will ich
vorsichtig sein." Lie ergriff die Keder, strich in dem
5atze „Cich zu besitzen, ist mein einziger Alunsch auf
Lrden!" das Wort „einziger" bis zur llnkenntlich-
keit aus und schrieb darüber „sehnlichster."
 
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