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Meier-Graefe, Julius; Delacroix, Eugène [Ill.]
Eugène Delacroix: Beiträge zu einer Analyse ... mit ... 2 Faksimiles und einer Anzahl unveröffentlichter Briefe — München, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.27158#0093
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REMBRANDT

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das ähnlich in der Lithographie von 1844 wiederkommt. Auf dem Bilde liegt der Leich-
nam des Gauls auf der rechten Seite. Der Löwe ist von links darauf gesprungen und
hat beide Vorderpranken, die ungeheuren Hebel einer Höllenmaschine, auf dem Kadaver.
Der Kopf blickt fletschend zurück nach einem verborgenen Feind, der auch auf die
Beute lauert. Das ganze Bild ist in ein paar Stunden gemalt, die Leinwand ist kaum be-
deckt. Man sieht nur die Bewegung, die aufs äuf3erste gespannte Vitalität des Raubtiers,
das ahsolut Tote der Beute. Die Bewegung des Löwen fiillt das ganze Bild. Ein Blond,
von etwas Weiß in den Lichtern erhellt, geschwärzt in den kolossalen Konturen, dehnt
sich über die ganze Fläche und scheint das fahle Grau des Kadavers zu verschlingen.
Die pfeilschnellen Striche sind wie Miasmen des Löwenhaften. Das Schauspiel steckt
in der ganzen Atmosphäre. — Das Bild gehört heuteFrau Adele Wolde in Bremen.
Das Schauspiel ist durchaus nicht immer tragisch, der Löwe ist nie eo ipso das schreck-
liche Ungeheuer, er ist das, was Delacroix aus ihm macht. In dem « Daniel in der Löwen-
grube» unterwerfen sich dieBestien gehorsam derLegende,wie gebannt von dem Zauber
eines Orpheus, und dieWildheit, die ihnen Delacroix läßt, paart sich mit einer Nuance
von Komik. Und die Komik ist keineswegs willkürlich, entstammt so gut der Natur wie
das Grausige. Sie interpretiert ebenso sicher das Motiv, das nicht geistvoller dargestellt
werden könnte, wie eine tatsächliche Eigenschaft der Tiere. So ist es immer bei Delacroix.
«Nul apres Shakespeare », schrieb Baudelaire, «n’excelle comme Delacroix ä fondre dans
une unite mysterieuse le drame et la verite!» Das unterscheidet ihn von allen Nach-
folgern. Sie sind nicht weniger wahr, aber ihre Wahrheit hat nicht den Preis der seinen,
ist nie den Gefahren der seinen ausgesetzt, überwindet sie nicht ebenso siegreich. Nie
erscheint die Natur als das Primäre, das ihn zur Gestaltung trieb. Sie bleibt das Mittel,
eine gehorsame Gehilfin. Tiere, Menschen, Landschaft, selbst die gleichgültigsten Dinge
spielen das Stück, das er aufführt. Aber die Gehilfin büßt nie ihre Würde ein. Sie muß
sich Opfer gefallen lassen, notwendige, rationelle Opfer, die der Kritik zu Zeiten Dela-
croix1 und auch ihm selbst, dem unerbittlichsten seiner Kritiker, zuweilen wie Fehler
erschienen1, die wir, an Opfer nur zu Gewöhnte, nicht mehr bemerken; nie wird sie zur

1 Der Maler Jean Gigoux hat darüher in seinen «Causeries sur les Artistes» amüsante Anekdoten aufge-
hoben. «Tout le monde peut voir ä Versailles son «Entree des Croises ä Constantinople» (heute das Haupt-
werk des Louvre). Dans cette grande toile toutes les figures sont ä leur place, et il semble qu’elles y respirent
l’air ä pleins poumons. Vous diriez une fenetre ouverte sur le passe. Vous voilä transporte comme par en-
chantement sur le Bosphore; vous voyez la ville avec ses rues etroites et blanches; au pemier plan un de
ces rudes croises maltraite un senateur, peut-etre le Paleologue lui-meme; le vieillard se cramponne aux
colonnes de porphyre; une femme ä genoux implore la clemence de ce brutal; ä droite, voici les guerriers
ä cheval; tout cela est superbe de vie et de couleur; mais le Croise qui renverse le vieillard en robe violet
et or montre-t-il son dos ou sa poitrine? Ne me fiant pas ä mon seul jugement, j’ai consulte des artistes et
des amateurs, nul ne put me repondre. Le maugrabin que je citais plus haut est dans les memes conditions
vagues, si bien que Ricourt, grand partisan de Delacroix, repondit plaisamment ä quelqu’un qui lui deman-
 
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