DERMENSCH UND DERKÜNSTLER
Ein Schleier liegt in der erften Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Natur der Maler. Er rührt von
den alten Holländern und vom Dix-huitieme her. Ein Schleier, der die Nuditäten eines hungrigen
Inftinktes fanft verhüllt und die Neuheit einer Kunft ohne Gemeinde,ohne Gesellfchaft, ohne all-
gemeine volkstümliche Tradition vermittelt. Bei den Fontainebleauern hat lieh der Schleier mit
der Zeit zu einem undurchdringlichen Firnis geftaltet, der uns nicht mehr erlaubt, Regungen, die
uns angehen, wahrzunehmen. Corot allein verftand es,ihn leicht zu halten, und fein Spiel, dem wir
noch immer traumverloren zufchauen, nicht zu befchweren. Die Sentimentalität feiner Liebe zu
dem Walde,zu den„Vögelchen des lieben Gottes“,zu den Menfchen,ift keine Zutat,kein Umhang
der Zeit, fondern inniger formenwirkender Teil feines Wefens, warmerTon feines Gefühls. Er
verhüllte nichts mit dem Schleier,fondern webte in ihm feine Legende.
Diefen Schleier riß Courbet entzwei. Er war der Revolutionär, ein neuerMenfch: der bis zur Er-
bitterung inbrünftige Prolet, der mit feinem Pinfel wie mit einer gewaltigen Schaufel die Erde
umgrub,um neueFrucht zu gewinnen. Die Nymphen zerftoben in alleWinde. Aus war es mit dem
Spiel befchaulicher Gerinnung, aus mit dem Sang der kleinenVögel und der Sage vom lieben Gott,
mit allen Gelegenheitsgedichten. Am Eingang diefer neuen Gefchichte fteht ein großes, düfteres
Gruppenbild: ein Begräbnis.
Man riskiert mit dem Vergleich Corot- Courbet den Vorwurf, fich die Aufgabe zu leicht zu machen.
Die Unterfchiede find zu kraß. Aber die Zeit fordert den Vergleich. Man kann ihre entfeheidendfte
Diskrepanz nicht treffender fchildern, als wenn man fich der Gemeinfchaft diefer beiden Gegen-
fätze erinnert, und begeht dabei keineWillkür. Denn nicht weniger fcharfals zwifchen diefen, noch
fchärfer gähnt zwifchen Courbet und Delacroix und Daumier und vielen anderen der Spalt. Man
wird felbft bei den fcheinbar auf gleichen Pfaden wandelnden Revolutionären Roufleau, Dupre
und Millet im Grunde wenigVerwandtes mit diefem Eroberer finden.
Nicht nur die Kunft, das ganze Menfchentum diefes Künftlers war Eroberung. Nichts Zaghaftes,
nichts vom Kinde, nichts Gutmütiges haftet Courbet an. Er ift der Individualift mit ftarken Ell-
bogen. Corot hatte die jahrzehntelange Zurückfetzung ganz natürlich gefunden, Delacroix darüber
verächtlich gelächelt, Millet dazu gefeufzt. Sie lebten mit ihrer Kunft, waren Kinder ihrer Mufe
und fehl echte Gefchäftsleute. Courbet wehrte fich mit Händen und Füßen. Mit unerhörter Rück-
fichtslofigkeit brach er fich Bahn. Er wurde der erfte Manager der modernen Kunft. Sein Schüler
Whiftler adoptierte die Methode und raffinierte fie, ohne fie fympathifcher zu machen, und ohne
die fubjektive Legitimität des Meifters. Courbet teilte feine Zeit in zwei ungleiche Hälften. In
der größeren malte er, in der anderen machte er Theorie. Er befchränkte fich nicht auf die Kunft,
7
Ein Schleier liegt in der erften Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Natur der Maler. Er rührt von
den alten Holländern und vom Dix-huitieme her. Ein Schleier, der die Nuditäten eines hungrigen
Inftinktes fanft verhüllt und die Neuheit einer Kunft ohne Gemeinde,ohne Gesellfchaft, ohne all-
gemeine volkstümliche Tradition vermittelt. Bei den Fontainebleauern hat lieh der Schleier mit
der Zeit zu einem undurchdringlichen Firnis geftaltet, der uns nicht mehr erlaubt, Regungen, die
uns angehen, wahrzunehmen. Corot allein verftand es,ihn leicht zu halten, und fein Spiel, dem wir
noch immer traumverloren zufchauen, nicht zu befchweren. Die Sentimentalität feiner Liebe zu
dem Walde,zu den„Vögelchen des lieben Gottes“,zu den Menfchen,ift keine Zutat,kein Umhang
der Zeit, fondern inniger formenwirkender Teil feines Wefens, warmerTon feines Gefühls. Er
verhüllte nichts mit dem Schleier,fondern webte in ihm feine Legende.
Diefen Schleier riß Courbet entzwei. Er war der Revolutionär, ein neuerMenfch: der bis zur Er-
bitterung inbrünftige Prolet, der mit feinem Pinfel wie mit einer gewaltigen Schaufel die Erde
umgrub,um neueFrucht zu gewinnen. Die Nymphen zerftoben in alleWinde. Aus war es mit dem
Spiel befchaulicher Gerinnung, aus mit dem Sang der kleinenVögel und der Sage vom lieben Gott,
mit allen Gelegenheitsgedichten. Am Eingang diefer neuen Gefchichte fteht ein großes, düfteres
Gruppenbild: ein Begräbnis.
Man riskiert mit dem Vergleich Corot- Courbet den Vorwurf, fich die Aufgabe zu leicht zu machen.
Die Unterfchiede find zu kraß. Aber die Zeit fordert den Vergleich. Man kann ihre entfeheidendfte
Diskrepanz nicht treffender fchildern, als wenn man fich der Gemeinfchaft diefer beiden Gegen-
fätze erinnert, und begeht dabei keineWillkür. Denn nicht weniger fcharfals zwifchen diefen, noch
fchärfer gähnt zwifchen Courbet und Delacroix und Daumier und vielen anderen der Spalt. Man
wird felbft bei den fcheinbar auf gleichen Pfaden wandelnden Revolutionären Roufleau, Dupre
und Millet im Grunde wenigVerwandtes mit diefem Eroberer finden.
Nicht nur die Kunft, das ganze Menfchentum diefes Künftlers war Eroberung. Nichts Zaghaftes,
nichts vom Kinde, nichts Gutmütiges haftet Courbet an. Er ift der Individualift mit ftarken Ell-
bogen. Corot hatte die jahrzehntelange Zurückfetzung ganz natürlich gefunden, Delacroix darüber
verächtlich gelächelt, Millet dazu gefeufzt. Sie lebten mit ihrer Kunft, waren Kinder ihrer Mufe
und fehl echte Gefchäftsleute. Courbet wehrte fich mit Händen und Füßen. Mit unerhörter Rück-
fichtslofigkeit brach er fich Bahn. Er wurde der erfte Manager der modernen Kunft. Sein Schüler
Whiftler adoptierte die Methode und raffinierte fie, ohne fie fympathifcher zu machen, und ohne
die fubjektive Legitimität des Meifters. Courbet teilte feine Zeit in zwei ungleiche Hälften. In
der größeren malte er, in der anderen machte er Theorie. Er befchränkte fich nicht auf die Kunft,
7