Meier-Graefe, Julius: Die weisse Strasse (Berlin, 1930)

tum mit allen ethnographischen Geschichten ver-
schwindet neben dem Kult. Wenn es irgendwo
noch Christen gibt, sind sie hier, Urchristen ältesten
Datums, Christusmenschen. Die anderthalb Dutzend
Jahrhunderte vergessen sich, als ob es Tage wären.
Man empfängt in nie gehörten Klängen, in nie ge-
sehenen Gebärden traumhafte Erinnerung an unsere
Religion, als sie noch ungeteilter Glaube, unge-
brochenes Handeln, nicht Gerede, nicht pomphafte
Kirche, nicht Papst, sondern Heroismus war, als sich
noch Leute, die Christus kannten, mit ihm gewesen
waren, ohne viele Worte kreuzigen ließen. Ich sah
Bewegungen, die später gotisch wurden, noch nicht
stilisiert und ungeeignet, sich runden, gefällig glätten,
ornamentieren zu lassen; Gestalten, die keiner anderen
Kunst bedürfen, die man durch Kunst verkleinern,
illustrieren würde, weil sie in ihrer eigenen Materie
bereits vergeistigt sind. Ich sah die Kraft, die später
zu Wundern und Legenden führte. Die Kräfte
strömen ins Gebet. An den Armen, die sich gesteift
und langsam zur Erde neigen, hängen Gewichte.
Man fühlt die Schwere. Die ganze weiße Straße
hängt daran. Alles beugte sich, vor, hinter mir,
zu beiden Seiten, in ungeregeltem Rhythmus auf
und nieder; unförmlich eingewickelte Frauenrücken,
die leicht wie Tücher wurden, Männernacken mit
fetten, steif abstehenden Strähnenschöpfen, gedunsene
Gesichter, schwitzige Stirnen, entzündete Lider;
immer wieder langsam auf und nieder, und ich
fühlte, wie die Stickluft milde um meine Glieder
strich, stand versteinert da, ein verlassenes Ge-
mäuer in lauem Dunst und dachte an die sonder-