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Meier-Graefe, Julius
Die weisse Strasse — Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.30357#0181
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hinter dem sich sein erhabenes Ich verbirgt. Bei
dem geringsten Versuch, den bildlichen Ausdruck zu
realisieren, sitzt er allein da. „Wir“ gibt es nur in
der Krepost.

Es hatte dafür keine oder nur geringe Bedeutung,
daß eigentlich wir hinter dem Gitter saßen und die
Viecher frei herumliefen. An den eintönigen Gesang
jenseits der Palisaden gewöhnte man sich. Niemand
achtete darauf. Man hatte anderes zu tun. Höchstens
gab der Gesang unserem Unfug eine sonore Be-
gleitung.

Von meinem Bett aus konnte ich unseren ganzen
Saal überblicken. Es war die einzige freie Stelle,
die kälteste aber vornehmste Lage. Konzerte, Vor-
stellungen, Empfänge, Konferenzen fanden immer
nur hier statt. Ich schlief unter dem Fenster und
verfügte über die Hälfte des tiefen Fensterbretts.
Die andere Hälfte gehörte meinem Nachbar zur
Linken, dem Artilleriehäuptling Kaltenborn. Zwi-
schen mir und Kaltenborn war eine Lücke, fast
so groß wie die Breite des Fensters. Da man
infolgedessen sowohl auf Kaltenborns als auch auf
meinem Bett sitzen und außerdem noch einen
Reisekorb zwischen sich haben konnte, entstand
ein Zimmer. Dies war bei Konzerten und dergleichen
die Loge. Kaltenborn schrieb inmitten des tollsten
Skandals an der Geschichte seiner Batterie, sprach
fast nie, und wenn es geschah, in einer satirischen
Art, die Gottchen nicht mochte. Neben Kaltenborn
lag Vitzthum, das Kind. Dann kamen noch ein
paar Österreicher. Meine Interessen gingen nach
rechts. Mein und Gottchens Bett bildeten eins.

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