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Mengs, Anton Raphael; Schilling, Gustav [Hrsg.]
Anton Raphael Mengs' Sämmtliche hinterlassene Schriften (Band 1) — 1843

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https://doi.org/10.11588/diglit.6323#0204
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— 188 —

tigkeit beschuldigen könnte. Kam es doch auch allein nur daher, dass
die Carracci's, namentlich Annibal und Ludwig, ihren Zeichnungs-
Styl nach dem seinen bildeten, was in allen ihren Werken, die sie
vor ihrem Aufenthalt in Rom schufen, sichtbar ist. Es scheint, als
habe Correggio alle Formen der Natur, die durch keine Kunst Ver-
änderung erleiden, so betrachtet, als beständen sie aus runden, er-
habenen, oder vertieften Linien und wichen nur in Ansehung ihrer
Grösse und Proportion von einander ab. Er vermied dadurch alles
Winklichte, und verfiel nicht in Kleinigkeiten und Trockenheiten,
denen die meisten Maler der vorhergehenden Schulen ausgesetzt
waren. So Hess er beinahe alle geraden Striche weg und wählte
meistens die dem Buchstaben S gleichende Wellenlinie. Dadurch
glaubte er die meiste Grazie zu erreichen, weil er wahrscheinlich
beobachtet hatte, dass der Unterschied zwischen dem trockenen und
schönsten antiken Styl hauptsächlich darin besteht, dass die Umrisse
und Formen des ersten (meistens) aus geraden, krummen und er-
habenen Linien zusammengesetzt sind, bei dem letztern hingegen
eine Abwechselung blos von krummen Linien sich vorfindet. Uebri-
gens verfuhren die Alten auf solche Weise nicht etwa aus Eigensinn
oder übergrossem Hange nach Geschmack, sondern lediglich um
dadurch die Wahrheit auf das Pünktlichste nachzuahmen, und weil
die Kenntniss der Anatomie und der Bau des menschlichen Körpers
überhaupt es mit sich bringt, dass die Schrägheit der Muskeln und
ihre verschiedenen Lagen auf den runden Gebeinen abwechselnde
Krümmungen bilden. Weil ferner fleischigte und muskulöse Kör-
per mehr erhabene und grössere Formen haben als die vertieften,
schwache und magere Körper hingegen nicht so viele Erhabenhei-
ten und mehr Vertiefungen, so wählte Correggio den Mittelweg,
ohne sich dadurch von der Wahrheit zu entfernen.

Es ist schwer zu bestimmen, ob Correggio durch die Kennt-
niss des Helldunkels und die Nachahmung der Wirklichkeit zur
Kenntniss der Formen und Umrisse, sowie ihres Innern geleitet
wurde, oder ob er seine Vollkommenheit hierin auf einem andern
Wege, vielleicht durch die anhaltend wissenschaftlichen Studien
erreichte; aber gewiss ist, dass nach Raphael keiner die Per-
spective, welche soviel zur guten Zeichnung des Nackten beiträgt,
besser verstand als er, auch besass nur Michel Angelo mehr Kennt-
niss von den Formen und dem Bau des menschlichen Körpers. Das
 
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