VI. Inzest
1. Der Inzest als Forschungsproblem
Betrachtet man die Forschungsgeschichte zum Inzest, so ist es neben der Rechts-
wissenschaft vor allem die Soziologie und Sozialanthropologie, die sich immer
wieder mit diesem Thema befasst hat. Verschiedene gesellschaftliche Systeme der
Gegenwart aber auch der Vergangenheit werden nach diesem Phänomen befragt,
um den Ursachen des Inzestverbotes näher auf die Spur zu kommen. Inzest als Ver-
bot, einen nahen Verwandten zu ehelichen, durchzieht, so die einhellige Meinung,
alle gesellschaftlichen Systeme, lediglich die jeweilige Ausprägung ist unterschied-
lich. Weil also Inzest in allen Gesellschaften existent ist, beansprucht er universale
Geltung/ Die Theorien, wie und warum der Inzest ein so bedeutendes kulturüber-
greifendes Phänomen darstellt, sind inzwischen kaum noch zu überschauen. Um
den Blick für die Problematik zu schärfen, seien die vielfältigen Erläuterungen kurz
zusammengefasst.'
a) Zwischen Exogamieregeln und emotionaler Inkompatibilität
- zwei Erklärungsmodelle
Grundsätzlich lassen sich als Erklärung zwei Strömungen aus der Literatur heraus-
filtern. Zunächst vertreten verschiedene Soziologen bzw. Sozialanthropologen die
Ansicht, dass das Inzestverbot vornehmlich die Institution ist, die Verwandte
schafft. Indem bestimmte Mitglieder der eigenen Verwandtschaft für eine Ehe-
schließung tabuisiert sind, so der Gedankengang, ist nur eine Heirat außerhalb der
eigenen Verwandtengruppe möglich. Diese negative Ausrichtung des Inzestes, ge-
rade nicht die eigene Schwester oder Mutter zu ehelichen, beinhaltet letztlich die
positive Implikation, die eigene Familie zu öffnen sowie Bande und Allianzen au-
ßerhalb derselben zu schaffen. Somit perpetuiert sich die Gesellschaft durch die
Heirat der Schwester oder Mutter eines anderen. Es ist Claude Levi-Strauss, der be-
reits Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner These des Tausches diese Richtung vor-
gegeben hat. Dieser sieht den Inzest vor allem in einem auf Exogamieregeln beru-
henden Tausch von Frauen begründet. Seiner Ansicht nach muss ein Mann, um die
1 Vgl. LEVi-SiRAUss, Verwandtschaft, S. 55.
2 Die Literatur ist kaum noch zu überblicken. Deshalb wird im Folgenden lediglich eine Auswahl
betrachtet; darüber hinaus vgl. VowiNCKEL, Verwandtschaft; vgl. BiscHOF, Rätsel Ödipus; vgl.
WESEL, Frühformen des Rechts, S. 197-200.
1. Der Inzest als Forschungsproblem
Betrachtet man die Forschungsgeschichte zum Inzest, so ist es neben der Rechts-
wissenschaft vor allem die Soziologie und Sozialanthropologie, die sich immer
wieder mit diesem Thema befasst hat. Verschiedene gesellschaftliche Systeme der
Gegenwart aber auch der Vergangenheit werden nach diesem Phänomen befragt,
um den Ursachen des Inzestverbotes näher auf die Spur zu kommen. Inzest als Ver-
bot, einen nahen Verwandten zu ehelichen, durchzieht, so die einhellige Meinung,
alle gesellschaftlichen Systeme, lediglich die jeweilige Ausprägung ist unterschied-
lich. Weil also Inzest in allen Gesellschaften existent ist, beansprucht er universale
Geltung/ Die Theorien, wie und warum der Inzest ein so bedeutendes kulturüber-
greifendes Phänomen darstellt, sind inzwischen kaum noch zu überschauen. Um
den Blick für die Problematik zu schärfen, seien die vielfältigen Erläuterungen kurz
zusammengefasst.'
a) Zwischen Exogamieregeln und emotionaler Inkompatibilität
- zwei Erklärungsmodelle
Grundsätzlich lassen sich als Erklärung zwei Strömungen aus der Literatur heraus-
filtern. Zunächst vertreten verschiedene Soziologen bzw. Sozialanthropologen die
Ansicht, dass das Inzestverbot vornehmlich die Institution ist, die Verwandte
schafft. Indem bestimmte Mitglieder der eigenen Verwandtschaft für eine Ehe-
schließung tabuisiert sind, so der Gedankengang, ist nur eine Heirat außerhalb der
eigenen Verwandtengruppe möglich. Diese negative Ausrichtung des Inzestes, ge-
rade nicht die eigene Schwester oder Mutter zu ehelichen, beinhaltet letztlich die
positive Implikation, die eigene Familie zu öffnen sowie Bande und Allianzen au-
ßerhalb derselben zu schaffen. Somit perpetuiert sich die Gesellschaft durch die
Heirat der Schwester oder Mutter eines anderen. Es ist Claude Levi-Strauss, der be-
reits Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner These des Tausches diese Richtung vor-
gegeben hat. Dieser sieht den Inzest vor allem in einem auf Exogamieregeln beru-
henden Tausch von Frauen begründet. Seiner Ansicht nach muss ein Mann, um die
1 Vgl. LEVi-SiRAUss, Verwandtschaft, S. 55.
2 Die Literatur ist kaum noch zu überblicken. Deshalb wird im Folgenden lediglich eine Auswahl
betrachtet; darüber hinaus vgl. VowiNCKEL, Verwandtschaft; vgl. BiscHOF, Rätsel Ödipus; vgl.
WESEL, Frühformen des Rechts, S. 197-200.