Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1907

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4249#0008
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
4

oder Blumen schüttend und oben Amor den Pfeil abschießend stehen. Allerdings scheint das Motiv der Komposition
burgundischen Vorbildern und die Landschaft einem Stiche des Meisters E. S. entlehnt zu sein,' die Formen der
Gestalten, die Typen, die Zeichnung der Hände und der Gewänder und selbst einzelne Bäume und Pflanzen sind aber
durchaus italienisch und entsprechen bis ins einzelne dem Stil der Madonna der Marciana.
Wenn diese drei Stiche auch wohl nicht von derselben Hand ausgeführt sind, so gehören sie doch ohne Zweifel
derselben Stilrichtung und derselben Entwicklungsstufe des venezianischen Kupferstichs an. Da die Landschast im
Liebesbrunnen nach einem 1467 datierten Blatte des Meisters E. S. kopiert ist, so wird man — falls man nicht
annehmen will, daß dieselbe Landschaft schon auf einem früheren Stiche des E. S. vorgekommen sein könne — diesen
Stich an das Ende der Sechzigerjahre setzen müssen. Die Gruppe als solche, die Stilrichtung, die sie repräsentiert, muß
aber jedenfalls älter sein als dieses einzelne Blatt, einmal wegen ihrer engen stilistischen Beziehungen zur venezianischen
Malerei der Vierzigerjahre, dann auch, weil, wie wir sehen werden, Stiche einer ohne Zweifel jüngeren Entwicklungs-
stufe schon in den Sechzigerjahren entstanden sind.
Etwas gröber als in diesen drei Werken ist die technische Behandlung zweier Blätter mit Darstellungen des
Marzo und des Otubrio,- aber das System des Stichs ist das gleiche. Lehrs hat bei der Besprechung des Liebes-
brunnens auf diese beiden Blätter als Analoga hingewiesen. Der burleske Charakter der Figuren, der auch in den
unten angebrachten Versen im venezianischen Dialekt zum Ausdruck kommt, forderte wohl etwas derbere Formen
und stärkere Effekte der Technik. Die Zeichnung verleugnet aber auch in der schon sehr frei bewegten und geschickt
verkürzten Gestalt des Marzo nicht die nahe Verwandtschaft mit den vorher besprochenen Stichen.
Neben dieser kleinen, aber wichtigen Gruppe der ältesten venezianischen Kupferstiche läßt sich nun eine zweite,
an Umfang und gegenständlichem Interesse bedeutendere Reihe von Werken ebenfalls venezianischen Ursprungs
zusammenstellen, die, wenn auch zum Teil nur wenig jünger als die erste, doch schon aus dem Kreise der zweiten
Generation der venezianischen Malerschule des XV. Jahrhunderts und aus einer ganz anders gearteten künstlerischen
Umgebung hervorgegangen ist. Das bedeutendste und interessanteste Werk dieser Gruppe sind die sogenannten
»Tarocchi«, die früher allgemein »tarocchi di Mantegna« genannt wurden. Die Folge besteht aus fünf Reihen von je
zehn Darstellungen, von denen die erste die Stände der menschlichen Gesellschaft (vom Bettler bis zum Papste), die
zweite die schönen Künste (Apollo und die neun Musen), die dritte die Wissenschaften (Trivium, Quadrivium und
Philosophie, Astrologie und Theologie), die vierte die kosmischen und ethischen Prinzipien (die sieben Tugenden),
die fünfte endlich die zehn Himmel (die sieben Planeten und die drei Sphären) personifizieren.3 Die Annahme daß
diese Folge als Tarockkartenspiel gedient habe, ist zuerst von Galichon* mit schlagenden Gründen widerlegt worden.
Abgesehen davon, daß die Blätter für keines der bekannten italienischen Kartenspiele Verwendung finden könnten,
sind unterscheidende Zeichen, wie sie für Spielkarten üblich und notwendig sind, nicht vorhanden, die Nummern aber
an einer Stelle angebracht, die die Karten für den Gebrauch zum Spielen ganz ungeeignet machen. Es ist auch von
den zahlreichen erhaltenen Exemplaren der Blätter bisher kein einziges gefunden worden, das auf starkes Papier
gedruckt oder aufgeklebt wäre, um zum Spielen verwendet werden zu können. Dagegen sind mehrere Folgen in der
ursprünglichen Buchform, je zwei Blätter zusammenhängend und zu Heften geschichtet, einzelne sogar noch in den
alten Einbänden erhalten. Kolloff5 hat der Folge den treffenden Namen eines »Lehrbilderbuches« gegeben. Schlosser«
sieht in den Bildern ein belehrendes Spiel, das nach mittelalterlicher Auffassung die zehn Himmel mit den geistigen
und sittlichen Mächten der Erde im Vergleich stellt. Er bringt sie mit den Freskenzyklen in Zusammenhang, in denen der
enzyklopädische Geist des Mittelalters einen Schematismus des Weltsystems zu geben suchte.
Die Renaissance ist aber hier an der Umgestaltung der mittelalterlichen Vorstellungen schon tätig gewesen.
Aus schemenhaften Personifikationen hat sie lebendige Gestalten in naturgemäßer Umgebung zu schasfen verstanden
und ihnen mit den neuen Formen auch einen neuen Gehalt von Empfindung zu geben vermocht.7 Hierin liegt haupt-
sächlich der künstlerische Reiz der Bilder und wohl auch die Ursache ihrer großen Beliebtheit. Eine ganz ansehnliche
Zahl von Kopien nach den Figuren in verschiedenen Techniken hat sich erhalten und gestattet den Schluß, daß die
Bilder sehr verbreitet gewesen und häufig als Vorlagen benützt worden sein müssen.8 Man wird vielleicht sogar

i Siehe Lehrs im Jahrbuche der königlichen preußischen Kunstsammlungen, XII, 1891, Seite 125 ff. mit Abbildungen. — Das Blatt, das sonst
unbeschrieben ist, mißt 265 : 185 mm.
2 Beide in der Albertina zu Wien. Siehe Passavant, V, Seite 186, Nr. 84 und 85. —Abbildungen: Chalkographische Gesellschaft, 1888,
Nr. 11 und 12.
3 Siehe Bartsch, XIII, Seite 120 ff.; Passavant, V, Seite 119 sf.
4 Gazette des Beaux-Arts, 1861, IX, Seite 142 ff.
■r> Meyers Künstlerlexikon (Baldini).
6 Jahrbuch der Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses, Wien 1896, XVII, 1, Seite 80 ff.
' Malaspina (Catalogo di sua raccölta, Milano 1824, IV, Seite 318 ff.) glaubte sogar in den Figuren des Papstes, des Dogen, des Königs und
des Kaisers die Bildnisse bestimmter Herrscher erkennen zu können. Es sind jedenfalls individuelle Bildungen.
8 In einer Miniatur von 1467 in den »Costituzioni e privilegi dello studio Bolognese« (Bologna, Arch. di Stato. Siehe Malaguzzi im Arch.
storico dell'arte, VII [1894], Seite 20, mit Abbildung) sind für die Figuren des Papstes und des Kaisers die entsprechenden Bilder der »Tarocchi«

shire.
 
Annotationen