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Abb. 9. Quinghien-Relief in Tournai.
Darstellungsmittel darf wohl doch nicht so völlig zum alten
Eisen geworfen werden. Die Unseligkeit des Wortes trägt
die Hauptschuld an den vielen falschen Vorstellungen. Statt
Naturalismus spreche man von intensivem Erfassen der
einzelnen Form und einer besonderen Freude, diese isoliert
zu gestalten.
Der Exkurs über den Meister des Todes Mariae ergab
französische Quellen für die Formenbildung in den frühesten
niederländischen Kupferstichen. Im Exercitium sind jene
Quellen nicht unmittelbar wirksam. Jedoch bleiben die
Stiche hinsichtlich der weichen Gewandformen, von denen
wir ausgegangen waren, die nächsten graphischen Parallelen
zu den beiden Schnitten des Exercitium.
Sucht man jetzt Beziehungen zwischen den Schnitten
des Exercitium und der Plastik herzustellen, so wird man
bei der Durchsicht des skulpturalen Materials auf Reliefs
aus der Bildhauerschule von Tournai vom Anfang des
XV. Jahrhunderts geführt. Die »imaigiers« von Tournai
spielten besonders im XIV. Jahrhundert eine große Rolle
weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Waagen1
setzte sich für die Plastik von Tournai erstmals ein. In neuerer Zeit folgten kleinere Arbeiten, wobei vor allem
auf den Zusammenhang verschiedener Skulpturen mit Roger van der Weyden hingewiesen wurde.'- Hierbei
ging man viel zu weit, indem man Roger selbst als Bildhauer einführte. Sicher aber verdienen die Reliefs aus den
ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts genauer auf ihre Beziehungen zu südniederländischen Bildern, insbesondere
aber zum Meister von Flemalle hin untersucht zu werden. Ich erwähne zunächst ein Relief, welches in erster Linie als
Parallele für eine Art der Faltenbildung herangezogen werden soll, die im Exercitium wiederholt Anwendung findet.
Hier ist das ausgeprägteste Beispiel auf Tafel VIII zu finden, während Tafel V und VII auch noch Beispiele enthalten.
Es handelt sich um die langen, parallel herabfallenden Röhrenfalten, welche am Boden nachschleifen und manchmal
sich zu eigenartigem Geschiebe verdichten. Das abgebildete
Relief — freilich nur nach einem alten Riß3 — und ein
Stück aus der letzten Darstellung des Exercitium dürften
besser als Worte illustrieren, worauf es ankommt (Abb 7, 8).
Daß wir nicht fehlgehen, wenn wir die Schnitte in den Stil-
kreis der Plastik von Tournai einführen, zeigt aber in viel
höherem Maße die Zusammenstellung des Votivreliefs des
1429 verstorbenen Kanonikus Quinghien mit dem ersten
Holzschnitt des Exercitium1 (Abb. 9, 10). Berücksichtigt
man die grundverschiedenen Voraussetzungen des plastischen
und des graphischen Bildwerkes — die künstlerischen und
die rein technischen — und schließlich die Relativität der-
artiger Übereinstimmungen überhaupt, so scheint mir kein
künstlerisches Denkmal weitgehender mit dem Schnitt der
ersten Exercitium-Darstellung zusammenzustimmen als das
1 Über eine alte Bildhauerschule zu Tornay in den Niederlanden.
Kunstblatt XXIX, 1848.
- J. Rousseau: La sculpture flamande du XI au XIV siecle (Bulletin
des Commissions royales d'art et d'archeologie, 1873 — 77). A. de Ia Orange
et Louis Cloquet: Etudes sur l'art ä Tournai, 2 Bde., 1889. L. Maeterlinck:
Roger van der Weyden et les »Ymaigiers« de Tournai (Memoires couronnes
.... par l'Academie royale de Belgique, 1900/1901). Vergleiche auch den
Aufsatz des gleichen Autors »Roger van der Weyden, Sculpteur«, Gazette
des beaux arts, 1901, II.
3 Aus de la Grange-Cloquet.
l Ich habe mich vergebens bemüht festzustellen, ob das Relief 1429
entstanden ist oder ob dieses Jahr bloß das Todesjahr des Quinghien be-
deutet. In der Literatur heißt es bald, das Werk sei 1429 entstanden, bald,
es sei für den 1429 Verstorbenen angefertigt. Sicher kann die Herstellung
vom Tode des Quinghien nicht weit abgerückt werden.
Abb. 10. Exercitiun
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Abb. 9. Quinghien-Relief in Tournai.
Darstellungsmittel darf wohl doch nicht so völlig zum alten
Eisen geworfen werden. Die Unseligkeit des Wortes trägt
die Hauptschuld an den vielen falschen Vorstellungen. Statt
Naturalismus spreche man von intensivem Erfassen der
einzelnen Form und einer besonderen Freude, diese isoliert
zu gestalten.
Der Exkurs über den Meister des Todes Mariae ergab
französische Quellen für die Formenbildung in den frühesten
niederländischen Kupferstichen. Im Exercitium sind jene
Quellen nicht unmittelbar wirksam. Jedoch bleiben die
Stiche hinsichtlich der weichen Gewandformen, von denen
wir ausgegangen waren, die nächsten graphischen Parallelen
zu den beiden Schnitten des Exercitium.
Sucht man jetzt Beziehungen zwischen den Schnitten
des Exercitium und der Plastik herzustellen, so wird man
bei der Durchsicht des skulpturalen Materials auf Reliefs
aus der Bildhauerschule von Tournai vom Anfang des
XV. Jahrhunderts geführt. Die »imaigiers« von Tournai
spielten besonders im XIV. Jahrhundert eine große Rolle
weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus. Waagen1
setzte sich für die Plastik von Tournai erstmals ein. In neuerer Zeit folgten kleinere Arbeiten, wobei vor allem
auf den Zusammenhang verschiedener Skulpturen mit Roger van der Weyden hingewiesen wurde.'- Hierbei
ging man viel zu weit, indem man Roger selbst als Bildhauer einführte. Sicher aber verdienen die Reliefs aus den
ersten Jahrzehnten des XV. Jahrhunderts genauer auf ihre Beziehungen zu südniederländischen Bildern, insbesondere
aber zum Meister von Flemalle hin untersucht zu werden. Ich erwähne zunächst ein Relief, welches in erster Linie als
Parallele für eine Art der Faltenbildung herangezogen werden soll, die im Exercitium wiederholt Anwendung findet.
Hier ist das ausgeprägteste Beispiel auf Tafel VIII zu finden, während Tafel V und VII auch noch Beispiele enthalten.
Es handelt sich um die langen, parallel herabfallenden Röhrenfalten, welche am Boden nachschleifen und manchmal
sich zu eigenartigem Geschiebe verdichten. Das abgebildete
Relief — freilich nur nach einem alten Riß3 — und ein
Stück aus der letzten Darstellung des Exercitium dürften
besser als Worte illustrieren, worauf es ankommt (Abb 7, 8).
Daß wir nicht fehlgehen, wenn wir die Schnitte in den Stil-
kreis der Plastik von Tournai einführen, zeigt aber in viel
höherem Maße die Zusammenstellung des Votivreliefs des
1429 verstorbenen Kanonikus Quinghien mit dem ersten
Holzschnitt des Exercitium1 (Abb. 9, 10). Berücksichtigt
man die grundverschiedenen Voraussetzungen des plastischen
und des graphischen Bildwerkes — die künstlerischen und
die rein technischen — und schließlich die Relativität der-
artiger Übereinstimmungen überhaupt, so scheint mir kein
künstlerisches Denkmal weitgehender mit dem Schnitt der
ersten Exercitium-Darstellung zusammenzustimmen als das
1 Über eine alte Bildhauerschule zu Tornay in den Niederlanden.
Kunstblatt XXIX, 1848.
- J. Rousseau: La sculpture flamande du XI au XIV siecle (Bulletin
des Commissions royales d'art et d'archeologie, 1873 — 77). A. de Ia Orange
et Louis Cloquet: Etudes sur l'art ä Tournai, 2 Bde., 1889. L. Maeterlinck:
Roger van der Weyden et les »Ymaigiers« de Tournai (Memoires couronnes
.... par l'Academie royale de Belgique, 1900/1901). Vergleiche auch den
Aufsatz des gleichen Autors »Roger van der Weyden, Sculpteur«, Gazette
des beaux arts, 1901, II.
3 Aus de la Grange-Cloquet.
l Ich habe mich vergebens bemüht festzustellen, ob das Relief 1429
entstanden ist oder ob dieses Jahr bloß das Todesjahr des Quinghien be-
deutet. In der Literatur heißt es bald, das Werk sei 1429 entstanden, bald,
es sei für den 1429 Verstorbenen angefertigt. Sicher kann die Herstellung
vom Tode des Quinghien nicht weit abgerückt werden.
Abb. 10. Exercitiun