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so verfährt der Weber der Teppiche mit seinen malerischen Vorbildern; wobei die ganz anderen technischen
Voraussetzungen hier noch ein übriges taten. Die Herkinbalt-Szenen, welche zum Vergleich mit unserem Exercitium
eigentlich allein nähere Betrachtung erfordern, zeigen auch allzudeutlich, wie wenig zuverlässig die Webereien
den ursprünglichen Stil wiedergeben. Gerade auch die Kostüme weisen bei Männern wie bei Frauen Merkmale
auf, welche die Vorbilder unmöglich besessen haben können. Wie die Männer lange, spitze Schnabelschuhe
erhalten haben, so erhielten einige Frauen die hohe, spitze Haube, Dinge, die erst nach der Jahrhunderthälfte
aufkamen. Die vorher erwähnte Frau rechts unten scheint nun eine Figur zu sein, an der besonders wenig
verändert wurde. Der breite Gürtel ist wohl eine neue Zutat, aber im großen und ganzen dürfte die Figur ihrem
Vorbilde entsprechen. Schon Voll1 betont diese F'rau als eine für Roger sehr charakteristische Erfindung. Da nun
Roger die Vorbilder der Teppiche, wie sicher feststeht, in den dreißiger Jahren des XV. Jahrhunderts geschaffen
hat, so ergibt sich hier ein neuer wichtiger Hinweis für die Entstehung der Holzschnitte des Exercitium.
Wollen wir gleich, indem wir die Aufnahme des Vergleichsmaterials schließen, die zeitliche Festsetzung des
Exercitium kurz beleuchten. Das letzte Monument, der Teppich nach Roger, hat uns eine Parallele aus den drei-
ßiger Jahren des XV. Jahrhunderts vorgeführt. Der Johannes-Altar desselben Künstlers hatte uns bewiesen, daß
der Engeltypus, der also auch noch vor der Mitte des Jahrhunderts entstand, aber doch wesentlich später als die
Brüsseler Rathausbilder, schon nichts mehr mit den Engeln des Exercitium gemein hat. Es treten übrigens am
Johannes-Altar noch ganz ähnliche Frauentrachten auf wie in den Schnitten, aber eine Figur wie die der Salome
geht doch auch schon weit über das hinaus, was das Exercitium brachte; die Junkerfiguren entsprechen schon
ganz jenen, wie wir sie in den Miniaturen aus der vorgerückten Regierungszeit Philipps des Guten kennen, und
nicht mehr dem guten und dem schlechten Christen. Es stellt sich also das Verhältnis der Exercitium-Schnitte
zu Roger so dar, daß nur Gelegentliches aus dem Frühwerk einen Vergleich bietet. Der Beauner Altar kommt
also zum Beispiel schon nicht mehr in Betracht. Viel mehr, ja in hohem Maße, sind wir, als wir Anschluß an
die Malerei suchten, auf den Meister von Flemalle geführt worden. Aber auch in seinem Werke gestatteten
besonders die früheren Arbeiten engere Vergleiche, und entschieden fällt sein letzter Stil — die »Kreuzigung- in
Berlin — nicht mehr für uns ins Gewicht. Daher kommt es auch, daß etwa ein Werk, welches den späteren
Stil des Meisters von Flemalle und den reifen Stil Rogers van der Weyden verarbeitet, für das Exercitium keine
Vergleichspunkte mehr liefert. Ich denke an die Darstellungen der »Tresorerie de la Toison d'or■-, des wunderbaren
Wiener Paramentenschatzes.- Sicher hat ja Schlosser das Richtige getroffen, wenn er Jen Stil dieser kostbaren
Gewänder aus den beiden Stützen der Schule von Tournai ableitet. Charakteristisch ist dieser Ausdrucksweise eine
gewisse eckige Gebrochenheit, besonders in den Silhouetten. Das ist etwas, was sich auch tatsächlich sehr bald im
niederländischen Holzschnitt ausdrückt. Das Exercitium zeigt aber noch nicht die leisesten Ansätze hierzu. Die
Beobachtungen, welche der Vergleich der Schnitte mit dem Meister von Flemalle zeitigte, unterstützen somit die zeit-
liche Ansetzung in die dreißiger Jahre. Winkler hat gelegentlich die Möglichkeit der Entstehung der Schnitte in den
zwanziger Jahren zugegeben; hierfür fehlt es an Beweisen.3 Das Ouinghien-Relief, das besonders wichtige Ver-
gleichsstück aus der Plastik, ist um 1430 anzusetzen.1 So hat die eingehende Durchsicht des Materials und die
Analyse der Schnitte die Datierung Kristellers in das zweite Viertel des XV. Jahrhunderts gerechtfertigt, und es
läßt sich nur hinzufügen, daß die dreißiger Jahre eine besondere Wahrscheinlichkeit für die Entstehung
darbieten. Man könnte vielleicht einwenden, daß die Holzschnitte später entstanden als ihr Stil vermuten läßt. Das ist
aber nicht möglich. Denn es handelt sich keineswegs um einen mäßig begabten Holzschneider, welcher imstande ist,
irgend einen Stil, welcher nicht der seiner Zeit ist, wiederzugeben, sondern um eine starke Künstlerpersönlichkei^
welche aus dem Geiste ihrer Zeit heraus schafft. Losgelöst aus dieser Zeit wäre der Exercitium-Zeichner nicht
denkbar und irgend einmal würden sich auch Anzeichen einer späteren Kunststufe einstellen. Schließlich aber
widerspricht der kommende niederländische Holzschnitt absolut dieser Annahme.
Es liegt außerhalb der Grenzen dieser Arbeit, den niederländischen Holzschnitt nach der Jahrhunderthälfte
zu schildern. Wenn ich mich mit demselben auseinandersetzen werde, hoffe ich, das noch immer über dem Brüsseler
Madonnenschnitt mit der Jahreszahl 1418 schwebende Rätsel endgültig dahin lösen zu können, daß derselbe
bereits diesem späteren Zeitabschnitt angehört; wenigstens in der Gestalt, in welcher er uns heute vorliegt. An das
Pomerium spirituale hat man immer die Jahreszahl 1440 geheftet. Daß der Stil der Schnitte und ihre Technik hiermit
nicht übereinstimmen, ist von Kristeller schon angedeutet worden. Meine Bemühungen, einzelne Schnitte festzustellen,
ch J. von Schlusser, Dei [iurgundische Pai-ainentenM.li.il/.
l Op. cit., Seite 58.
3 Die kostbaren Stücke sind jetzt erfreulicherweise mustergültig veröffentlicht
des Ordens vom goldenen Vließe, Wien 1912.
3 Op. cit. Seite 54. Winkler nennt in gleichem Zusammenhang die Glasfenster von I.ierre. Soweit ich nach den Abbildungen, auf die ich
angewiesen bin, urteilen kann, scheinen mir doch auch die frühen Teile deiselben bereits einen etwas spateren Stil zu vertreten als das Exercitium.
l Ich habe bei der Heranziehung der plastischen Denkmale die Amsterdamer Statuen der Tugenden nicht etwahnt, aufweiche Kristeller wegen
trachtlicher Übereinstimmung hingewiesen hat Mir scheint, von allgemeinen, durch Gleichzeitigkeit gegebenen Anklingen abgesehen, keine stilistische
Verwandtschaft zu bestehen.
so verfährt der Weber der Teppiche mit seinen malerischen Vorbildern; wobei die ganz anderen technischen
Voraussetzungen hier noch ein übriges taten. Die Herkinbalt-Szenen, welche zum Vergleich mit unserem Exercitium
eigentlich allein nähere Betrachtung erfordern, zeigen auch allzudeutlich, wie wenig zuverlässig die Webereien
den ursprünglichen Stil wiedergeben. Gerade auch die Kostüme weisen bei Männern wie bei Frauen Merkmale
auf, welche die Vorbilder unmöglich besessen haben können. Wie die Männer lange, spitze Schnabelschuhe
erhalten haben, so erhielten einige Frauen die hohe, spitze Haube, Dinge, die erst nach der Jahrhunderthälfte
aufkamen. Die vorher erwähnte Frau rechts unten scheint nun eine Figur zu sein, an der besonders wenig
verändert wurde. Der breite Gürtel ist wohl eine neue Zutat, aber im großen und ganzen dürfte die Figur ihrem
Vorbilde entsprechen. Schon Voll1 betont diese F'rau als eine für Roger sehr charakteristische Erfindung. Da nun
Roger die Vorbilder der Teppiche, wie sicher feststeht, in den dreißiger Jahren des XV. Jahrhunderts geschaffen
hat, so ergibt sich hier ein neuer wichtiger Hinweis für die Entstehung der Holzschnitte des Exercitium.
Wollen wir gleich, indem wir die Aufnahme des Vergleichsmaterials schließen, die zeitliche Festsetzung des
Exercitium kurz beleuchten. Das letzte Monument, der Teppich nach Roger, hat uns eine Parallele aus den drei-
ßiger Jahren des XV. Jahrhunderts vorgeführt. Der Johannes-Altar desselben Künstlers hatte uns bewiesen, daß
der Engeltypus, der also auch noch vor der Mitte des Jahrhunderts entstand, aber doch wesentlich später als die
Brüsseler Rathausbilder, schon nichts mehr mit den Engeln des Exercitium gemein hat. Es treten übrigens am
Johannes-Altar noch ganz ähnliche Frauentrachten auf wie in den Schnitten, aber eine Figur wie die der Salome
geht doch auch schon weit über das hinaus, was das Exercitium brachte; die Junkerfiguren entsprechen schon
ganz jenen, wie wir sie in den Miniaturen aus der vorgerückten Regierungszeit Philipps des Guten kennen, und
nicht mehr dem guten und dem schlechten Christen. Es stellt sich also das Verhältnis der Exercitium-Schnitte
zu Roger so dar, daß nur Gelegentliches aus dem Frühwerk einen Vergleich bietet. Der Beauner Altar kommt
also zum Beispiel schon nicht mehr in Betracht. Viel mehr, ja in hohem Maße, sind wir, als wir Anschluß an
die Malerei suchten, auf den Meister von Flemalle geführt worden. Aber auch in seinem Werke gestatteten
besonders die früheren Arbeiten engere Vergleiche, und entschieden fällt sein letzter Stil — die »Kreuzigung- in
Berlin — nicht mehr für uns ins Gewicht. Daher kommt es auch, daß etwa ein Werk, welches den späteren
Stil des Meisters von Flemalle und den reifen Stil Rogers van der Weyden verarbeitet, für das Exercitium keine
Vergleichspunkte mehr liefert. Ich denke an die Darstellungen der »Tresorerie de la Toison d'or■-, des wunderbaren
Wiener Paramentenschatzes.- Sicher hat ja Schlosser das Richtige getroffen, wenn er Jen Stil dieser kostbaren
Gewänder aus den beiden Stützen der Schule von Tournai ableitet. Charakteristisch ist dieser Ausdrucksweise eine
gewisse eckige Gebrochenheit, besonders in den Silhouetten. Das ist etwas, was sich auch tatsächlich sehr bald im
niederländischen Holzschnitt ausdrückt. Das Exercitium zeigt aber noch nicht die leisesten Ansätze hierzu. Die
Beobachtungen, welche der Vergleich der Schnitte mit dem Meister von Flemalle zeitigte, unterstützen somit die zeit-
liche Ansetzung in die dreißiger Jahre. Winkler hat gelegentlich die Möglichkeit der Entstehung der Schnitte in den
zwanziger Jahren zugegeben; hierfür fehlt es an Beweisen.3 Das Ouinghien-Relief, das besonders wichtige Ver-
gleichsstück aus der Plastik, ist um 1430 anzusetzen.1 So hat die eingehende Durchsicht des Materials und die
Analyse der Schnitte die Datierung Kristellers in das zweite Viertel des XV. Jahrhunderts gerechtfertigt, und es
läßt sich nur hinzufügen, daß die dreißiger Jahre eine besondere Wahrscheinlichkeit für die Entstehung
darbieten. Man könnte vielleicht einwenden, daß die Holzschnitte später entstanden als ihr Stil vermuten läßt. Das ist
aber nicht möglich. Denn es handelt sich keineswegs um einen mäßig begabten Holzschneider, welcher imstande ist,
irgend einen Stil, welcher nicht der seiner Zeit ist, wiederzugeben, sondern um eine starke Künstlerpersönlichkei^
welche aus dem Geiste ihrer Zeit heraus schafft. Losgelöst aus dieser Zeit wäre der Exercitium-Zeichner nicht
denkbar und irgend einmal würden sich auch Anzeichen einer späteren Kunststufe einstellen. Schließlich aber
widerspricht der kommende niederländische Holzschnitt absolut dieser Annahme.
Es liegt außerhalb der Grenzen dieser Arbeit, den niederländischen Holzschnitt nach der Jahrhunderthälfte
zu schildern. Wenn ich mich mit demselben auseinandersetzen werde, hoffe ich, das noch immer über dem Brüsseler
Madonnenschnitt mit der Jahreszahl 1418 schwebende Rätsel endgültig dahin lösen zu können, daß derselbe
bereits diesem späteren Zeitabschnitt angehört; wenigstens in der Gestalt, in welcher er uns heute vorliegt. An das
Pomerium spirituale hat man immer die Jahreszahl 1440 geheftet. Daß der Stil der Schnitte und ihre Technik hiermit
nicht übereinstimmen, ist von Kristeller schon angedeutet worden. Meine Bemühungen, einzelne Schnitte festzustellen,
ch J. von Schlusser, Dei [iurgundische Pai-ainentenM.li.il/.
l Op. cit., Seite 58.
3 Die kostbaren Stücke sind jetzt erfreulicherweise mustergültig veröffentlicht
des Ordens vom goldenen Vließe, Wien 1912.
3 Op. cit. Seite 54. Winkler nennt in gleichem Zusammenhang die Glasfenster von I.ierre. Soweit ich nach den Abbildungen, auf die ich
angewiesen bin, urteilen kann, scheinen mir doch auch die frühen Teile deiselben bereits einen etwas spateren Stil zu vertreten als das Exercitium.
l Ich habe bei der Heranziehung der plastischen Denkmale die Amsterdamer Statuen der Tugenden nicht etwahnt, aufweiche Kristeller wegen
trachtlicher Übereinstimmung hingewiesen hat Mir scheint, von allgemeinen, durch Gleichzeitigkeit gegebenen Anklingen abgesehen, keine stilistische
Verwandtschaft zu bestehen.