Platz eingenommen, in den freien Landschaftsstreifen umgewandelt, ein
Kompositions- oder Ausschnittsschema, das wir mit anderen Mitteln und
auf andere Wirkung hin häufig noch bei den Holländern des XVII. Jahr-
hunderts finden, z. B. bei van Goyen.1 Bis wir dann zu jenen Bildern
mit »stillem, tiefem Horizonte«, wie dem »Blick auf Haarlem« von Jakob
Ruysdael,2 kommen, in denen das Streifenartige aufgegeben ist und man
»nur grenzenlose Weite des Raumes spürt«. »Nordische Schönheit ist
nicht eine Schönheit des In-sich-Geschlossenen und Begrenzten, sondern
des Grenzenlosen und Unendlichen.«3 Nachdem die Sehnsucht des
gotischen Menschen zum Zenite des Himmels gestrebt hatte, spannte
sie mit dem Freiwerden der Persönlichkeit erstaunt, freudig und doch
unstillbar ihre Schwingen über die der Menschheit neugeschenkte Erde,
auch auf dieser anscheinend niederen Flugbahn am Ende doch wieder
in kosmische Unendlichkeit gerichtet.
Die sieben mir bekannten Helldunkelzeichnungen Hubers aus
dem Jahre 1518 sind: Christus, den Besessenen heilend,4 Zwei kämpfende
Ritter,5 Einzug Christi in Jerusalem,0 Johannes auf Patmos, Fortuna,7 Der
heilige Chrysostomus8 und Die Verkündigung an Joachim9 (Abb. 6, 7,8).
Die drei letzteren sind bisher nicht abgebildet worden.
Das Joachimblatt ist ebenso wie das von 1514 von der Er-
findung Dürers abhängig, aber noch mehr ins Volkstümliche übertragen.
Joachim, ein struppiger Waldhirte, kniet mit vor Staunen offenem Munde und der schon bekannten Handstellung1"
schräg bildeinwärts, die Schuhsohlen zeigend. Die Landschaft zieht gegen den rechten Bildrand zurück, die Weißhöhung
folgt der Linie, erhöht die Reliefwirkung, hebt hervor, ist aber fern jeder folgerichtigen Beleuchtung.
Nach den reizvollen Ausführungen Paul Schubrings11 ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß die zweite, in
den Uffizien bewahrte Zeichnung unseres Künstlers eine Szene aus der Chrysostomuslegende wiedergibt. Im
Winterteil des Passionais12 wird erzählt, wie Chrysostomus die Königstochter, um nicht mehr mit ihr zu sündigen
— mulier horrida nocturna avis sagt der Kirchenvater —, von einem »hohen Stein« in die Tiefe stößt. Später, als
er in tierähnlich verwildertem Büßerzustande an den Königshof" gebracht worden war, führte er die Jäger zum Felsen
und erblickte die Totgeglaubte unverletzt und gesund. Verlassen in Einsamkeit, auf freiem Waldboden, gerahmt
vom üblichen Randbaume, der diesmal zweigeteilt mit strähnigem Gezweige ist, und dem phantastisch in zwei
Kaskaden überhängenden Felsen, sitzt schräg bildeinwärts, aber dem Beschauer zugewendet, leicht vorgeneigt eine
völlig nackte Frau mit in dünnen Kringeln auffliegendem Haare auf schmal sich bauschendem Tuche, mit ihrer
Rechten das mit einer Frucht spielende Kindlein13 haltend. Vom »hohen Stein« späht Chrysostomus mit blattartig
konturiertem Haare und in Arabesken gewelltem Barte. Nach links weicht die Landschaft zurück, in der äußersten
Ferne spiegelt in einem Gewässer die kleine zwischen Bildrand und Baumstamm gezwängte Sonne. Die Weißhöhung
ergeht sich in Linienspielen, unterstützt am Felsen die Bewegung und hebt in ornamentalen Streifen und Flecken
die Körperformen.
Die Fortuna in Bayonne ist gegenständlich von der Nemesis Dürers abhängig, selbst der doppelte diagonale Zug
der Landschaft von der Mitte gegen die Bildränder (Fluß und lichtes Gelände, die den Ort Klausen spitzig abgrenzen),
scheint Huber angeregt zu haben, seine Berg- und Seelandschaft wie eine scharf zugehende Landzunge zu gestalten.11
Die flutumspülte Burg in der Mitte des Vordergrundes könnte eine Erinnerung sein an »das veste Schloss, das Oberhauß
genandt, auf St. Georgen Berg«15 bei Passau; aus breitem Gewässer, in dem die Sonne spiegelt und blinkt, scheint sich
wie auf einem Inselchen ein Kirchlein zu heben. In den Lüften auf einer von rauchigem, sich in die Fläche ausbreitenden
Gewölke getragenen Kugel ein jugendliches, nacktes und breit geflügeltes Weib16 mit auffliegendem Haare in leicht
geneigter Haltung, ein schmales Schleiertuch, auf dessen eines Ende sie tritt, dessen anderes in Arabesken flattert,
1 Ein besonders schönes Beispiel, auf dem der Turm Goyens die Stelle des hohen Baumes bei Huber einnimmt, in der ehemaligen Sammlung
Strauß. Nachlaßkatalog Abb. Tat'. 17. — Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Abb. S. 153. — 3 Wölfflin a. a. O., S. 154. — 1 Dresden,
Kupferstichkabinett. Abb. Dresdener Handzeichnung, II., Taf. 16. — => Dessau. Becker o. a. O., Taf. 5.-6 Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. Deutsche
Handzeichng. im Kupferst.-Kab. B. Taf. 82. — ' Bayonne, Museum. Samml. Bonnat. 15 6 H. : 10-6 cm Br. — s Uffizien, 13-6 H. : 0-7 cm Br. bisher
unrichtig als Eva mit einem Kinde bezeichnet. — 9 Uffizien, 19-8 H. : 13-5 cm Br. — 10 Bei Dürer ist die ähnliche Gebärde organischer und kraftvoller.—
ii Zeitschr. f. bild. Kunst 1913, S. 109ff. — Hinweis Frl.P. Meders. — 12 Der Heiligen Leben und Leiden, anders genannt das Passional. Augsburg 1471,
Winterteil. Neudruck im Insel-Verlag. I. 327. — « Diese Einführung — die Legende berichtet von keinem Kinde — ist Dürers Kupferstich »Die Buße
des hl. Chrysostomus« entlehnt, der auf unser Blatt keinen weiteren Einnuß ausgeübt hat. — 1» Der doppelte, nach links und rechts gerichtete
Landschaftsstreifen. — 15 Topographia Bavariae (Matthaeus Merian MDCXLIV); vergl. auch d. Rad. Hirschvogels »Stadt am Fluß (Passau)«, wohl die
seitenverkehrte Kopie nach einer Passau-Zeichnung Hubers. Voß in Mitt. d. graph. Künste, 1909, S. 57. — ig Im Holzschnitte »Das Parisurteil« hat
Huber die Figur (ohne Flügel und Kugel) einfach wiederholt, so daß der Druck sie seitenverkehrt gibt. Abb. Meister d. Graphik. Bd. III, Taf. 03.
— 6 —
Kompositions- oder Ausschnittsschema, das wir mit anderen Mitteln und
auf andere Wirkung hin häufig noch bei den Holländern des XVII. Jahr-
hunderts finden, z. B. bei van Goyen.1 Bis wir dann zu jenen Bildern
mit »stillem, tiefem Horizonte«, wie dem »Blick auf Haarlem« von Jakob
Ruysdael,2 kommen, in denen das Streifenartige aufgegeben ist und man
»nur grenzenlose Weite des Raumes spürt«. »Nordische Schönheit ist
nicht eine Schönheit des In-sich-Geschlossenen und Begrenzten, sondern
des Grenzenlosen und Unendlichen.«3 Nachdem die Sehnsucht des
gotischen Menschen zum Zenite des Himmels gestrebt hatte, spannte
sie mit dem Freiwerden der Persönlichkeit erstaunt, freudig und doch
unstillbar ihre Schwingen über die der Menschheit neugeschenkte Erde,
auch auf dieser anscheinend niederen Flugbahn am Ende doch wieder
in kosmische Unendlichkeit gerichtet.
Die sieben mir bekannten Helldunkelzeichnungen Hubers aus
dem Jahre 1518 sind: Christus, den Besessenen heilend,4 Zwei kämpfende
Ritter,5 Einzug Christi in Jerusalem,0 Johannes auf Patmos, Fortuna,7 Der
heilige Chrysostomus8 und Die Verkündigung an Joachim9 (Abb. 6, 7,8).
Die drei letzteren sind bisher nicht abgebildet worden.
Das Joachimblatt ist ebenso wie das von 1514 von der Er-
findung Dürers abhängig, aber noch mehr ins Volkstümliche übertragen.
Joachim, ein struppiger Waldhirte, kniet mit vor Staunen offenem Munde und der schon bekannten Handstellung1"
schräg bildeinwärts, die Schuhsohlen zeigend. Die Landschaft zieht gegen den rechten Bildrand zurück, die Weißhöhung
folgt der Linie, erhöht die Reliefwirkung, hebt hervor, ist aber fern jeder folgerichtigen Beleuchtung.
Nach den reizvollen Ausführungen Paul Schubrings11 ist wohl nicht daran zu zweifeln, daß die zweite, in
den Uffizien bewahrte Zeichnung unseres Künstlers eine Szene aus der Chrysostomuslegende wiedergibt. Im
Winterteil des Passionais12 wird erzählt, wie Chrysostomus die Königstochter, um nicht mehr mit ihr zu sündigen
— mulier horrida nocturna avis sagt der Kirchenvater —, von einem »hohen Stein« in die Tiefe stößt. Später, als
er in tierähnlich verwildertem Büßerzustande an den Königshof" gebracht worden war, führte er die Jäger zum Felsen
und erblickte die Totgeglaubte unverletzt und gesund. Verlassen in Einsamkeit, auf freiem Waldboden, gerahmt
vom üblichen Randbaume, der diesmal zweigeteilt mit strähnigem Gezweige ist, und dem phantastisch in zwei
Kaskaden überhängenden Felsen, sitzt schräg bildeinwärts, aber dem Beschauer zugewendet, leicht vorgeneigt eine
völlig nackte Frau mit in dünnen Kringeln auffliegendem Haare auf schmal sich bauschendem Tuche, mit ihrer
Rechten das mit einer Frucht spielende Kindlein13 haltend. Vom »hohen Stein« späht Chrysostomus mit blattartig
konturiertem Haare und in Arabesken gewelltem Barte. Nach links weicht die Landschaft zurück, in der äußersten
Ferne spiegelt in einem Gewässer die kleine zwischen Bildrand und Baumstamm gezwängte Sonne. Die Weißhöhung
ergeht sich in Linienspielen, unterstützt am Felsen die Bewegung und hebt in ornamentalen Streifen und Flecken
die Körperformen.
Die Fortuna in Bayonne ist gegenständlich von der Nemesis Dürers abhängig, selbst der doppelte diagonale Zug
der Landschaft von der Mitte gegen die Bildränder (Fluß und lichtes Gelände, die den Ort Klausen spitzig abgrenzen),
scheint Huber angeregt zu haben, seine Berg- und Seelandschaft wie eine scharf zugehende Landzunge zu gestalten.11
Die flutumspülte Burg in der Mitte des Vordergrundes könnte eine Erinnerung sein an »das veste Schloss, das Oberhauß
genandt, auf St. Georgen Berg«15 bei Passau; aus breitem Gewässer, in dem die Sonne spiegelt und blinkt, scheint sich
wie auf einem Inselchen ein Kirchlein zu heben. In den Lüften auf einer von rauchigem, sich in die Fläche ausbreitenden
Gewölke getragenen Kugel ein jugendliches, nacktes und breit geflügeltes Weib16 mit auffliegendem Haare in leicht
geneigter Haltung, ein schmales Schleiertuch, auf dessen eines Ende sie tritt, dessen anderes in Arabesken flattert,
1 Ein besonders schönes Beispiel, auf dem der Turm Goyens die Stelle des hohen Baumes bei Huber einnimmt, in der ehemaligen Sammlung
Strauß. Nachlaßkatalog Abb. Tat'. 17. — Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Abb. S. 153. — 3 Wölfflin a. a. O., S. 154. — 1 Dresden,
Kupferstichkabinett. Abb. Dresdener Handzeichnung, II., Taf. 16. — => Dessau. Becker o. a. O., Taf. 5.-6 Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. Deutsche
Handzeichng. im Kupferst.-Kab. B. Taf. 82. — ' Bayonne, Museum. Samml. Bonnat. 15 6 H. : 10-6 cm Br. — s Uffizien, 13-6 H. : 0-7 cm Br. bisher
unrichtig als Eva mit einem Kinde bezeichnet. — 9 Uffizien, 19-8 H. : 13-5 cm Br. — 10 Bei Dürer ist die ähnliche Gebärde organischer und kraftvoller.—
ii Zeitschr. f. bild. Kunst 1913, S. 109ff. — Hinweis Frl.P. Meders. — 12 Der Heiligen Leben und Leiden, anders genannt das Passional. Augsburg 1471,
Winterteil. Neudruck im Insel-Verlag. I. 327. — « Diese Einführung — die Legende berichtet von keinem Kinde — ist Dürers Kupferstich »Die Buße
des hl. Chrysostomus« entlehnt, der auf unser Blatt keinen weiteren Einnuß ausgeübt hat. — 1» Der doppelte, nach links und rechts gerichtete
Landschaftsstreifen. — 15 Topographia Bavariae (Matthaeus Merian MDCXLIV); vergl. auch d. Rad. Hirschvogels »Stadt am Fluß (Passau)«, wohl die
seitenverkehrte Kopie nach einer Passau-Zeichnung Hubers. Voß in Mitt. d. graph. Künste, 1909, S. 57. — ig Im Holzschnitte »Das Parisurteil« hat
Huber die Figur (ohne Flügel und Kugel) einfach wiederholt, so daß der Druck sie seitenverkehrt gibt. Abb. Meister d. Graphik. Bd. III, Taf. 03.
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