Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1927

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6495#0070
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
für derartige Untersuchungen nicht jedes Bildthema. Manche Darstellungen variieren gewiß in den Hss. so wenig, daß

— nähme man sie zum Maßstab — das ganze Material als völlig gleichartig erscheinen müßte. Von vornherein ist bei
denjenigen Themen die größte Wahrscheinlichkeit einer Eignung vorhanden, die abseits von den landläufigen Dar-
stellungen liegen, vor allem also solche, die neu in einer bestimmten Absicht geschaffen worden sind.

Dies mag kurz an einem Beispiel, dem Thema der Verfluchung der Schlange (Vorbild zur Verkündigung), durch-
geführt werden. Die Entwicklungsfolge der verschiedenen Fassungen dieser Darstellungen dürfte in der von Cornell
angegebenen Weise nicht ganz haltbar sein. Als Ausgangspunkt dieses für die B. P. eigens geschaffenen Bildthemas
haben wir jenen Typus zu betrachten, den die ältesten bayrischen Hss. zeigen (Abb. 1). Das Schema ist in freier
Anlehnung an die Erscheinung Gottes im brennenden Dornbusch (2. Bildgruppe) entstanden. Gottvater in Halbfigur im
Baum, vor ihm aufgerichtet die Schlange. Auf einem Schriftband stehen die der Lektion entlehnten Worte des Fluches:
»Gradierte super pectus tuum«. Der Text der Lektion geht indessen weiter; es heißt dort: »et postea ibidem legitur de
serpente et muliere: ipsa conteret caput tuum et tu insidiaberis calcaneo eius. Nam istud in annunciacione beate virginis
adimpletum est«. — Der Teil des Textes also, der vornehmlich Träger der Beziehungen zur neutestamentlichen Szene
ist und der eigentlich in erster Linie im Bilde seinen Ausdruck hätte finden sollen, wird in dieser Fassung überhaupt
nicht berücksichtigt. Dies wurde in Hinblick auf den typologischen Zusammenhang als Mangel empfunden. Daher die
Umredigierung der Darstellung in den Hss. der österreichischen Gruppe, die darauf hinausläuft, das Bild in dem Grad
dem Text der Lektion anzupassen, daß die durch diesen hergestellte Wechselbeziehung zur Hauptszene in gleicher
Weise durch das Bild ablesbar ist (Abb. 2). Bei dieser Umformung blieb das bisherige Schema in seinen Grundzügen
voll bewahrt. Eingeführt ist in den alten Typus nichts weiter als ein kleines Detail: ein Fuß, auf den Kopf der Schlange
gesetzt; also Wiedergabe' des Inhaltes der Lektion in hieroglyphischer Knappheit. Schwierigkeiten macht jedoch in
diesen Hss. die Deutung der Gestalt im Baum, deren bartloses, jugendliches Aussehen Cornell zu seiner Bestimmung
auf Christus veranlaßte. Jedoch ist gerade die in diesem Zusammenhang für die Wiener Hs. geltend gemachte jugendliche
Alterscharakterisierung (unter Berufung auf die bärtige, älter erscheinende Gestalt Gottvaters in der Gruppe »Moses
und der brennende Dornbusch«) zur Beweisführung nicht brauchbar, weil sich das Kriterium auf die ältere Schwester-Hs.
aus St. Florian (Taf. 13) nur sehr beschränkt anwenden läßt. Zum mindesten muß geleugnet werden, daß, wie es chrono-
logisch nötig wäre, von hier aus eine Ableitung a priori möglich sei. Auch widerspricht Cornells Ansicht der Umstand,
daß die Gestalt im Baum keinen Nimbus trägt, der gewiß nicht fortgelassen wäre, wenn dem Zeichner der Gedanke an
den präexistenten Christus vorgeschwebt hätte. Scheint somit die Möglichkeit einer eindeutigen Lösung nicht vorhanden,
so steht zum mindesten außer Frage die formale Ableitung der rätselhaften Gestalt aus der ihr entsprechenden des
bayrischen Urtypus. Darüber hinaus läßt sich für die beiden österreichischen Hss. nur eine offenbare Unsicherheit
der Zeichner feststellen, denen beiden der Sinn ihrer Vorlage verschlossen blieb.

Wie nun eigentlich der »umredigierte« Typus ursprünglich aussah, ist erst durch die KremsmünstererHss. zu ermitteln,
eine jüngere, den sogenannten österreichischen Hss. nahverwandte Gruppe,1 die jenen Typus trotz ihrer viel entwickelteren
Stufe dem Sinne nach voll erhalten hat (Abb. 3). Dort ist die Aufgabe folgendermaßen gelöst: Gottvater steht vor dem Baum,
in dessen Krone das Weib in ganzer Gestalt mit dem Fuß auf dem Kopf der um den Stamm geringelten Schlange; auf
dem Schriftband der Fluch, soweit er sich auf das Weib und die Schlange gemeinsam bezieht. Als Überschrift des ganzen
Bildes »Divina potestas«, nicht, wie Cornell will, zur Bezeichnung der Gestalt im Baum. — Hier ist also das Verhältnis
zum bayrischen Grundtypus genau das gleiche, wie das für die österreichischen Hss. ermittelte: Umformung im Sinne
einer präziseren Übereinstimmung mit dem Text. Nur sind die Mittel, mit denen dies geschah, weit durchgreifender, das
Ergebnis augenfälliger, und vor allem in jenem Punkte, wo die österreichischen Hss. offensichtlich schwankend waren,
herrscht jetzt Eindeutigkeit: die Gestalt im Baum ist zweifellos das im Text der Lektion angeführte Weib.

Von hier aus ist es nunmehr möglich, den Entwicklungsgang zu überblicken: Ausgangspunkt der bayrische
Typus — dieser modifiziert im Prototyp der österreichischen Gruppe (hinzugefügt nur der Fuß, auf dem Schriftband
jetzt der vollständige Fluch) —, als entstelltes Derivat die österreichischen Hss. von Wien-St. Florian (im Baum eine
nimbuslose Gestalt, die Gottvater gleichkommt und bei der inhaltlich dem Zeichner der Gedanke an das vom Fluch
betroffene Weib vorgeschwebt haben mag; daß das Schriftband unbeschrieben blieb, wird vielleicht kein Zufall sein).

- Gerade Weiterentwicklung des Prototypus in den Kremsmünsterer Hss. (selbständigere Fassung von größerer
Eindeutigkeit, in der oben beschriebenen Weise). — Zur Frage der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Hss. der
österreichischen und der Kremsmünsterer Gruppe, deren Zusammenhang die Textanalyse festgestellt hatte, liefert die
Untersuchung somit den Beweis, daß beide auf einen gemeinsamen Prototyp zurückgehen, nicht aber direkt voneinander
abhängen.

Die kompositionellen Änderungen, die in den Kremsmünsterer Hss. vorgenommen wurden, die Loslösung der Gestalt
Gottvaters aus der Verbindung mit dem Baum, finden ihre Analogie in der Weiterentwicklung des bayrischen Typus
(vgl. Taf. 14), wo ebenfalls Gottvater nun vor dem Baume steht, um dessen Stamm die Schlange sich ringelt. Das

1 Cornell unterscheidet unter nicht sehr glücklicher Benennung die ältere Gruppe der-üsterr. Hss.« von der jüngeren .Kremsmünsterer. Gruppe.

— 66 —
 
Annotationen