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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.6521#0047
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Für gewöhnlich ist das in der
Darstellung Wiedergegebene inAugen-
höhe zu denken: Der Blick ging hori-
zontal, und das heißt, die Bildebene
steht vertikal. Befindet sich das be-
trachtete Objekt aber hoch über dem
Betrachter, so geht der Blick nach
oben, woraus sich eine Neigung der
Bildtafel empfiehlt, und diese Neigung
führte zur Konvergenz der Vertikalen.
Aber natürlich muß auch der umge-
kehrte Fall gelten: Geht derBlick nach
unten,müssen durchNeigung derBild-
ebene die Vertikalen divergieren. Dieser
Anomalie begegneten die Künstler,
die eine Stadtvedute aus der Vogel-
schau nach perspektivischen Gesetzen
wiedergeben wollten, durch axono-
metrische Darstellung, das heißt die
Vertikalen sind auch vertikal gegeben.
Die Illustrationen der Merianschen
Topographien gelten als Typus von
Städtebildern aus der Vogelschau.
Derartige » Überschaulandschaften «
(K. Gerstenberg) nehmen noch Rück-
sicht auf unsere Sehgewöhnung.

Seit 1800 nun tauchen allerorts
Darstellungen in gedruckten Blättern,
oft aquarelliert, auf, Städtebilder von
einem Turm aus gesehen, der inmitten

Abb. 3. K. A. Richter, Dresdner Zyklorama von der Kuppel der Frauenkirche aufgenommen. 1S24. Stich.

des Blattes in Vertikalprojektion erscheint, während eine kreisrunde Horizontlinie das Bild umgrenzt. In das kreisrunde
Bildfeld ist die gesamte Stadtansicht gepfercht. Der Turm im Mittelpunkt ist der Standort des Zeichners. Um diesen
gruppiert sich das Stadtbild. Goethe berichtet im Jahre 1800 von einem solchen Blatt, das er in Leipzig kennenlernte:
». . . das sogenannte Panorama, worinnen man die ganze Stadt London, als stünde man auf einem Turm, übersieht, ist
recht merkwürdig und wird euch in Verwunderung setzen . .Nicht anders ist noch heute die Wirkung solcher Blätter.

Nun fände sich wohl kaum eine Stadt, die nicht das eine oder andere Turmpanorama aus dieser Zeit besäße, und
alle graphischen Sammlungen verfügen über mehr oder weniger zahlreiche Belegstücke.2 Die Eigentümlichkeit dieser
seltsamen Ansichten aus der Vogelschau, im Gegensatz zu denjenigen früherer Jahrhunderte, beruht eben — als Grenz-
fall der Bildtafelneigung parallel zum Horizont, respektive lotrecht zu ihm — in der Konvergenz aller Vertikalen (zum
Beispiel der Hauskanten). Sie kommen im Bildmittelpunkt zum Schnitt. Machte die Konstruktion der Perspektive bei ge-
neigter Bildtafel in der Deckenmalerei auch keine allzu große Schwierigkeit, da sie einfache Architekturgebilde wieder-
zugeben hatte (zum Beispiel Säulenhallen, Kuppeln, Balustraden), so mußte alle Kenntnis perspektivischer Konstruktions-
gesetze und aller Fleiß an der Aufgabe scheitern, ein so vielgestaltiges Architekturgebilde wie eine Stadt aus der Uber-
schau mathematisch exakt zu projizieren. Das Zustandekommen auf konstruktivem Wege schließt sich aber von selbst
aus. Es heischt nach einer anderen Erklärung, und diese ist sehr einfach in der Zuhilfenahme der Zeichenkamera für
die Naturaufnahmen zu finden. Die Camera obscura zum Zeichnen, wohl schon ein halbes Jahrtausend in den Händen
der Künstler, erlebt ihre breiteste Popularität im NVIII. Jahrhundert. Nur fand sie ausschließlich Verwendung mit
Vertikalstellung der Mattscheibe, die auch erst in neuester Zeit von den »Künstlern der entfesselten Kamera« — gemeint
ist hier natürlich der photographische Apparat — aufgegeben wurde zugunsten von Aufnahmen mit »stürzenden Linien«.
Der Photomontage und Reklamegraphik war die zweckfreie Graphik, der Expressionisten Schrittmacher.

Von der Zeit Zykloramen genannt, sind diese Blätter ohne Ausnahme in der Kamera gezeichnet. Sie ent-
stehen durch schrittweise Aufnahmen in der senkrecht nach unten blickenden Kamera, indem der Zeichner Bild an Bild

1 Goethe an Christiane Vulpius, Brief 5. V. 1800.

- Die Ansicht mit dem Kreishorizont aus der Vogelschau wurde auch von Bergkuppen aus aufgenommen, die in wachsender Naturbegeisterung
der Zeit erklommen wurden, um die Landschaft zu Füßen des Aussichtspunktes zu genießen. Sie leben bis heute in Fremdenführern und Karten-
verlagen fort (vgl. den Gesamtkatalog derartiger Panoramen von A. Dreyer, Karten- u. Rundsichten-Verzeichnis der Alpenvereinsbücherei 1930, S.87—100).

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