Abb. 4. Beweinung Christi, Kupferstich Israhels van Meckenem (G. 106) nach
dem Meister •(£
Wandfelder bedingte Betonung derBreitenausdehnung
eine Verschiebung der Größenverhältnisse und Rich-
tungsakzente herbeiführt, verblockt sich die durch den
eingeschalteten Profilkopf vom Kreuz abgedrängte
heilige Magdalena, die der Stich mit der zweiten
heiligen Frau zu einem hohen Lied des Schmerzes
vereinigt, zu einer einsamen Säule erdschweren Leids.
Hat nun auch die Tatsache, daß ein durchschnittlich
begabter Lokalmaler die in ihrer großartigen Einmalig-
keit unvergeßliche Schilderung der Totenklage seinem
Passionszyklus in extenso eingliedert, nichts Über-
raschendes an sich, weiß sie das kunsthistorische
Interesse dank der stilgeschichtlichen Provenienz und
den gestaltlichen Besonderheiten der Vorlage um so
dauernder zu fesseln. Wenn nämlich deren auch im
Zeichnerischen scharf umrissenes Gepräge buch-
stäblich bis zu den Fingerspitzen den niederländischen
Ursprung der Formgebung verkündet, ist die unter
dem Aspekt der Reliefskulptur vollzogene Gruppen-
bildung, die den Hauptansichten der in eine dünne
Kaumschicht eingezwängten Figuren eine bildparallele
Entfaltung abverlangt, keinem Geringeren alsRogier
van der Weyden zuzuschreiben, durch dessen be-
rühmtestes Frühwerk sich die berufensten Beurteiler
nicht umsonst an eine Holzschnitzerei im »Kasten«-
Raum eines Altarschreins erinnert gefühlt haben1 —
und die der tirolischen Malerei eingeborene Affinität
zur Bildhauerkunst mochte für den Verfertiger des
Freskos der erste und letzte Ansporn gewesen sein,
den ihm im Spiegel des graphischen Blattes be-
gegnenden Bildgedanken zu annektieren; 2 daß aber
dem Stecher des verschollenen Originals seinerseits
die »Kreuzabnahme« im Escorial, die ja nach O.Wert-
heimers zutreffender Beobachtung gelegentlich auch
den Protagonisten der oberrheinischen Plastik inspiriert
hat,3 zumindest in einer der vielen alten Repliken oder in Nachzeichnungen bekannt war, geht am ehesten aus einer Gegen-
überstellung der Gesichtstypen hervor, die für die Trägerin der Kreuzesnägel und die Maria Salome des Gemäldes (Abb. 5)
einen durch die Kopfhaltung verstärkten Gleichklang vermeldet. Weit über die wenn auch noch so engen Berührungen mit
1 Über Rogiers— vielleicht schon durch Herkunft und Lehrgang angebahnte —Beziehungen
zur Bildhauerkunst, die weiterhin einer wechselseitigen Einwirkung gleichkommen, belehren M. J.
Friedländer, Die altniederländische Malerei II, R. v. d. Weyden und der Meister von Flemalle,
Berlin 1924, S. 47 f. und die dort angeführte Spezialliteratur; vgl. hiezu auch J. Baum, Vesperbilder
aus dem Kreise Rogiers van der Weyden, Pantheon 1929, S. 563—570. — Ein durch den Reichtum
an Detailaufnahmen fortan unentbehrliches Abbildungsmaterial zum Gesamtceuvre des Künstlers
ist seit kurzem in den — textlich einander kontradiktorisch entgegengesetzten — Monographien
von J. Destree (>Roger de la Pasture«, Paris et Bruxelles 1930) und E. Renders (»La Solution du
Probleme v. d. Weyden, Flemalle, Campin*, Bruges 1931) ausgebreitet.
- Wie verständnisinnig die zeitgenössischen Vertreter des nächstbeteiligten Kunstzweiges
die an der Reliefplastik orientierte Stilgesetzlichkeit des Stiches hindurchgespürt haben, mag ein
bisher gleichfalls unbeachtetes Zeugnis aus einer räumlich weitabliegenden, dafür aber den Nieder-
landen in besonderem Maße verpflichteten Kulturzone dartun: Der Sevillaner Bildhauer Pedro
Millän, nach dem mit L. S. gezeichneten Artikel im »Allgem. Künstlerlexikon« XXIV (1930), S. 561
daselbst von 1487 bis 1506 tätig, hat sich bei der Johannes- wie bei der Magdalenen-Figur einer voll
A.L.Mayer, Mittelalterliche Plastik in Spanien, München s. a. (1922), T. 35 abgebildeten Terrakotta-
gruppe — eine ähnliche soll im Besitz des Großfürsten Konstantin von Rußland gewesen sein
— unverkennbar an Meckenem gehalten.
3 Vgl. .Nicolaus Gerhaert. Seine Kunst und seine Wirkung-, Berlin 1929, S. 44, Nr. 7 und
T. 13: es handelt sich um einen »Marien«-Kopf des Straßburger Frauenhauses, der vermutlich als
das Fragment eines ^Kreuzabnahmen-Reliefs anzusehen ist.
— 49 —
Abb. 5. Rogier van der Weyden, Kopf der Maria
Salome aus der »Kreuzabnahme« im Escorial.
dem Meister •(£
Wandfelder bedingte Betonung derBreitenausdehnung
eine Verschiebung der Größenverhältnisse und Rich-
tungsakzente herbeiführt, verblockt sich die durch den
eingeschalteten Profilkopf vom Kreuz abgedrängte
heilige Magdalena, die der Stich mit der zweiten
heiligen Frau zu einem hohen Lied des Schmerzes
vereinigt, zu einer einsamen Säule erdschweren Leids.
Hat nun auch die Tatsache, daß ein durchschnittlich
begabter Lokalmaler die in ihrer großartigen Einmalig-
keit unvergeßliche Schilderung der Totenklage seinem
Passionszyklus in extenso eingliedert, nichts Über-
raschendes an sich, weiß sie das kunsthistorische
Interesse dank der stilgeschichtlichen Provenienz und
den gestaltlichen Besonderheiten der Vorlage um so
dauernder zu fesseln. Wenn nämlich deren auch im
Zeichnerischen scharf umrissenes Gepräge buch-
stäblich bis zu den Fingerspitzen den niederländischen
Ursprung der Formgebung verkündet, ist die unter
dem Aspekt der Reliefskulptur vollzogene Gruppen-
bildung, die den Hauptansichten der in eine dünne
Kaumschicht eingezwängten Figuren eine bildparallele
Entfaltung abverlangt, keinem Geringeren alsRogier
van der Weyden zuzuschreiben, durch dessen be-
rühmtestes Frühwerk sich die berufensten Beurteiler
nicht umsonst an eine Holzschnitzerei im »Kasten«-
Raum eines Altarschreins erinnert gefühlt haben1 —
und die der tirolischen Malerei eingeborene Affinität
zur Bildhauerkunst mochte für den Verfertiger des
Freskos der erste und letzte Ansporn gewesen sein,
den ihm im Spiegel des graphischen Blattes be-
gegnenden Bildgedanken zu annektieren; 2 daß aber
dem Stecher des verschollenen Originals seinerseits
die »Kreuzabnahme« im Escorial, die ja nach O.Wert-
heimers zutreffender Beobachtung gelegentlich auch
den Protagonisten der oberrheinischen Plastik inspiriert
hat,3 zumindest in einer der vielen alten Repliken oder in Nachzeichnungen bekannt war, geht am ehesten aus einer Gegen-
überstellung der Gesichtstypen hervor, die für die Trägerin der Kreuzesnägel und die Maria Salome des Gemäldes (Abb. 5)
einen durch die Kopfhaltung verstärkten Gleichklang vermeldet. Weit über die wenn auch noch so engen Berührungen mit
1 Über Rogiers— vielleicht schon durch Herkunft und Lehrgang angebahnte —Beziehungen
zur Bildhauerkunst, die weiterhin einer wechselseitigen Einwirkung gleichkommen, belehren M. J.
Friedländer, Die altniederländische Malerei II, R. v. d. Weyden und der Meister von Flemalle,
Berlin 1924, S. 47 f. und die dort angeführte Spezialliteratur; vgl. hiezu auch J. Baum, Vesperbilder
aus dem Kreise Rogiers van der Weyden, Pantheon 1929, S. 563—570. — Ein durch den Reichtum
an Detailaufnahmen fortan unentbehrliches Abbildungsmaterial zum Gesamtceuvre des Künstlers
ist seit kurzem in den — textlich einander kontradiktorisch entgegengesetzten — Monographien
von J. Destree (>Roger de la Pasture«, Paris et Bruxelles 1930) und E. Renders (»La Solution du
Probleme v. d. Weyden, Flemalle, Campin*, Bruges 1931) ausgebreitet.
- Wie verständnisinnig die zeitgenössischen Vertreter des nächstbeteiligten Kunstzweiges
die an der Reliefplastik orientierte Stilgesetzlichkeit des Stiches hindurchgespürt haben, mag ein
bisher gleichfalls unbeachtetes Zeugnis aus einer räumlich weitabliegenden, dafür aber den Nieder-
landen in besonderem Maße verpflichteten Kulturzone dartun: Der Sevillaner Bildhauer Pedro
Millän, nach dem mit L. S. gezeichneten Artikel im »Allgem. Künstlerlexikon« XXIV (1930), S. 561
daselbst von 1487 bis 1506 tätig, hat sich bei der Johannes- wie bei der Magdalenen-Figur einer voll
A.L.Mayer, Mittelalterliche Plastik in Spanien, München s. a. (1922), T. 35 abgebildeten Terrakotta-
gruppe — eine ähnliche soll im Besitz des Großfürsten Konstantin von Rußland gewesen sein
— unverkennbar an Meckenem gehalten.
3 Vgl. .Nicolaus Gerhaert. Seine Kunst und seine Wirkung-, Berlin 1929, S. 44, Nr. 7 und
T. 13: es handelt sich um einen »Marien«-Kopf des Straßburger Frauenhauses, der vermutlich als
das Fragment eines ^Kreuzabnahmen-Reliefs anzusehen ist.
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Abb. 5. Rogier van der Weyden, Kopf der Maria
Salome aus der »Kreuzabnahme« im Escorial.