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Miethke, Jürgen [Hrsg.]
Geschichte in Heidelberg: 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde — Berlin, Heidelberg [u.a.], 1992

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https://doi.org/10.11588/diglit.2741#0255
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Gegenwärtige Tendenzen der deutschen Geschichtswissenschaft 245

Historische Bücher aus der Feder von deutschen Professoren mit wissenschaftli-
chem Anspruch, die gleichzeitig Verkaufszahlen von Bestsellern erreichen, sind
selten. Lothar Galls Bismarck-Biographie gehört dazu.1 Im Handel erfolgreiche hi-
storische Bücher sind in den letzten Jahren in der Regel entweder von Außenseitern
und Publizisten wie Sebastian Haffner und Joachim Fest oder von ausländischen
Historikern gekommen: man denke an Emmanuel Le Roy Ladurie oder an Barbara
Tuchman.

Die Ursachen für den Mangel an öffentlicher Resonanz der Historiker in
Deutschland sind sicher nicht nur bei diesen selbst zu suchen. Vielleicht ist hierzu-
lande eine bestimmte Form intellektueller Kultur zu schwach entwickelt, die nicht
nur Kunst und Dichtung, sondern auch Politik und Gesellschaft umgreift Den
Markt gewinnt das politische Drama oder das Kuriose, Fremdartige und Sensatio-
nelle. Nicht zufällig steht das auch bei uns so erfolgreiche Buch „Montaillou" von
Emmanuel Le Roy Ladurie Umberto Ecos „Namen der Rose" näher als einem
Werk moderner Sozialgeschichtsschreibung.s Auch die verbreitete Vorliebe für die
politische Biographie spricht eher für ein Interesse am Dramatischen oder Epischen
als an der Auseinandersetzung mit pointierten Thesen. Die gegenwärtige Inflation
an Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte bestätigt diese Diagnose und
wird mit Sicherheit an der gegebenen Interessenlage nicht viel ändern.

Nach diesen Vorbemerkungen wird man erwarten, daß ich mich jetzt den in-
haltlichen Tendenzen der deutschen Geschichtswissenschaft der Gegenwart zu-
wende und also Gegenstände, Epochen oder Aspekte benenne, die zur Zeit beson-
dere Aufmerksamkeit finden oder wo neuerdings wichtige Fortschritte der Er-
kenntnis oder des Verstehens erzielt worden sind.

Aus drei Gründen verbietet es sich, das Thema in diesem Sinne aufzufassen:

Erstens würde ein schlechter Beitrag daraus werden, denn die Vielfalt dessen,
wofür sich Historiker gegenwärtig mit gutem Recht interessieren, läßt sich kaum
auf eine überschaubare Zahl von gemeinsamen Nennern bringen, und so würde ich
am Ende nur Titel und Projekte aufzählen können.

Zweitens würde eine so verstandene Aufgabe die Kompetenz eines einzelnen
übersteigen, und so will ich zufrieden sein, wenn ich bis zum Ende meines Beitrags
wenigstens einige wesentliche Fragen aus demjenigen Bereich der Geschichtswis-
senschaft habe anschneiden können, für den ich am ehesten sprechen kann, nämlich
aus dem Gebiet der Neueren Geschichte.

Das will ich denn auch versuchen, bin aber drittens der Meinung, daß vor Ein-
tritt in die Diskussion einzelner Forschungsrichtungen eine viel grundsätzlichere
Frage gestellt werden muß.

Es ist die Frage nach der geschichtlichen Identität dessen, der sich seiner Ge-
schichte vergewissert, oder vielmehr: die Frage nach den Selbstidentifikationen, die
das Ethos des Historikers in der Verfolgung seiner jeweiligen Thematik ausma-
chen.

1 Lothar Gall, Bismarck. Der Weiße Revolutionär, Frankfurt. Berlin, Wien 1980.

2 Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou. Ein Dorf vor dem Inquisitor 1294 bis 1324, deut-
sche Ausgabe, Berlin 1980.
 
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