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Mincoff-Marriage, Elizabeth
Poetische Beziehungen des Menschen zur Pflanzen- und Tierwelt im heutigen Volkslied auf hochdeutschem Boden — Bonn: P. Hanstein's Verlagshandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.70221#0039
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t)er Mensch und die Pflanzen- und Tierwelt im Volkslied. 29
2. Verwandlung des lebendigen Menschen.
Zuweilen wird ein solcher Wunsch erfüllt. Eine ver-
lassene Frau beklagt sich
Eh’ wenn ich lö dos Waene stöhn
Wiel ich liever ouff de Wagschaed gohn;
Diett wiel ich zu aner Feldblum wa’n.
* *
$
Virmeittichs wiel ich schien uofblihn,
Nochmeittichs wiel ich traurich stien,
Wu olle Lait vorieba gohn
Diett wail ich inde traurich stöhn.
„Wos ies ineit dar oeme Seindereinn
Doss se do stiet onn bliht su blö?“ (Kuhld. (r.)
Böckel (Oberhessen XCIX) erklärt die Stelle folgender-
maßen: „Das Rätsel dieser Zeilen erklärt sich so: Selbstmörder
begrub man früher auf der Wegscheide; Blumen, die dort
blühen, sind ihre Seelen.-
Die Erklärung ist möglich, aber durchaus nicht notwendig.
Die blaue Wegewart, die hier gemeint ist (Cichorium sativum)
wird vom Volke auch „verfluchte Jungfer“ genannt.1) Diesem
Namen wird eine ähnliche Sage zu Grunde liegen, und „ver-
fluchte Jungfer“ würde die Seele einer Selbstmörderin kaum
heissen; hier liegt eine Verwandlung des lebendigen Menschen
vor. Es gibt auch einen Volksglauben, x) wonach die Wege-
wartblumen „verwünschte Männer“ sind, und zwar die blauen
gute, die weißen böse; also wieder eine Verwandelung bei
lebendigem Leibe. Ein ähnliches Lied aus Sachsen erzählt
uns: eine Witwe weint sieben Jahre und drei Nächte; ihre
Hartnäckigkeit wird heimgesucht:
Gott strafte sie fest, Gott strafte sie hart,
Dass sie zu einer Blume wart.
Vormittags blühte sie helleblau,
Nachmittags blühte sie dunkelblau;
Er ließ sie stehen bei Regen und Schnee
Wo alle Leutchen vorübergehn. (Lh. I 30.)
Hier ist von Selbstmord keine Rede, und die Ueberein-
stimmung mit dem kuhländischen Liede ist offenbar. Ein
gewichtiger Unterscheidungspunkt ergibt sich aber sofort:

) Gubernatis. La Mythologie des Plantes. Paris 1878—82. 2 Bde. II 87.
 
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