2. Jahrgang / Nummer 3
München, 1. Juni 1927
MITTEILUNGSBLATT
DER ARBEITSGEMEINSCHAFT
SÜDDEUTSCHER KUNSTGEWERBEVEREINE
Angeschlossene Vereine: BAYER. KUNSTGEWERBEVEREIN MÜNCHEN / BADISCHER KUNSTGEWERBE-
VEREIN KARLSRUHE / KUNSTGEWERBEVEREIN PFORZHEIM / KUNSTGEWERBEVEREIN DER PFALZ
KAISERSLAUTERN / KUNSTGEWERBEMUSEUM FÜR EDELMETALLINDUSTRIE, SCHWÄB. GMÜND
Ziele der heutigen Münchener Kunst
Von Dr. Hans Kiener
Hans Thoma hat einmal gesagt: „Die unklaren Ideen
über die einfachsten Dinge der bildenden Kunst sind
heute Gemeingut aller Gebildeten geworden." Das be-
steht auch leider heute noch zu Recht. Die Teilnahme
weiterer Kreise an den künstlerischen Problemen der
Gegenwart könnte sehr viel ersprießlicher sein, wenn
man einigermaßen wüßte, worauf es in der Kunst an-
kommt, wenn man wüßte und erlebt hätte, welche Pro-
bleme überhaupt künstlerisch möglich, fruchtbar und
folgenreich sind.
Es wäre viel gewonnen, wenn man sich klar würde,
wie sich geistige Impulse allmählich auf verschiedenen
Lebensgebieten auswirken. Wie die Lehre von der per-
sönlichen Autonomie verhängnisvoll die ethischen Grund-
lagen des Lebens ausgehöhlt und die Autorität unter-
graben hat, so hat sich der kantische Subjektivismus im
Umkreis des Künstlerischen ausgewirkt in einem ver-
hängnisvollen Mißverstehen des Wesens der „Originalität".
So gewiß es richtig ist, daß echte Kunst sich niemals
einer Formel aus zweiter Hand bedienen darf, daß jeder,
der etwas bedeuten will, sich selbst mit der Natur und
den Problemen seiner Kunst auseinandersetzen und so
seinen eigenen Stil finden muß, so gewiß besteht aber
die Originalität nicht darin, infolge mangelnder künst-
lerischer Kultur „Lösungen" zu „finden", die überhaupt
außerhalb aller Diskussion stehen.
In München steht seit dem 15. Jahrhundert die Kunst
im Vordergrunde des Interesses von Hof und Bürger-
schaft. Und als die instinktsichere Tradition abzureißen
drohte, im Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Ludwig I.
ein Mäzen von großem Stil und von glücklicher Hand,
der für entscheidende Aufgaben Männer von wirklichem
Können und von künstlerischer Kultur berief (Cornelius,
Klenze). Die wahrhaft liberale Aufgeschlossenheit Mün-
chens gegenüber fremden Anregungen, soweit sie echt
waren und Größeres bedeutet haben, als man selbst
leisten konnte (Sustris, Candid, Barella, Cuvillie, Thor-
waldsen usw.) ist ein Ruhmestitel für München. Die
Kraft des eigenen Bodens erkennt man aber darin, daß
die aus der Fremde Berufenen eine eigene Münchner Note
ihres Schaffens entwickeln. Von der Michaelskirche im
16. Jahrhundert bis zur Pflege des Impressionismus, der
in München zuerst in Deutschland eine Stätte fand,
läßt sich das verfolgen.
Als ein notwendiges Ergebnis bringt diese alte künst-
lerische Kultur, die von Ludwig I. vor Aufgaben von
europäischem Maßstab gestellt, die bis zur Gegenwart
lebendig ist, es mit sich, daß sich die Stadt nicht irgend-
welchen albernen Mätzchen, die man ihr aufoktroyieren
will, in die Arme wirft. Die gleiche Stadt, die wert-
vollen Anregungen von außen immer offen stand, war,
weil eben in ihr zu viele leben, die Kultur haben, gegen
unkünstlerische Spielereien immer skeptisch; auch gegen
den Jugendstil war sie ablehnend und hat so verhütet,
daß Straßenbilder durch diese üble Mode verschandelt
wurden.
Die Stadt, in der Konrad Fiedler geschrieben, eine
Stadt, die für Marees ein wichtiger Durchgangspunkt
gewesen und die heute so glücklich ist, alle wichtigen
Werke von ihm zu haben, die Stadt, in der A. v. Hildebrand
sein Problem der Form geschrieben und damit Grund-
legendes künstlerischer Gestaltung für alle Zeiten gesagt
hat, wird notwendig ihre Aufgaben in der Gegenwart
darin sehen, moderne Aufgaben künstlerisch zu lösen.
Die Gründung der Sezession entsprang diesem Bedürfnis,
einmal grundsätzlich abzusehen vom Assoziativen, dem
Religiösen, Patriotischen und Novellistischen des Kunst-
werkes, das damals in den neunziger Jahren noch eine
größere Rolle gespielt hat, als wir uns heute eingestehen,
und vor allem das Künstlerische, das Formale zu pflegen.
Und als dann die Zeit war, wo man das Heil der Kunst
in einem „Los von der Natur" erblickte, als in der Folge
dieser Bewegung die „Neue Sezession" gegründet wurde,
war man sich sehr bald klar, bälder als irgendwo, daß
das souveräne Schalten mit den Naturformen nur Sinn
und Bedeutung hat, wenn es im Dienste einer höheren
künstlerischen Gesetzlichkeit geschieht.
Im Städtebau hat man in München mit Erfolg nach
1900 den öden Schematismus des quadratischen Straßen-
netzes verlassen und wieder versucht, den künstlerischen
Reiz des organisch gewachsenen Straßenzuges zu er-
reichen. Im Monumental- und Industriebau ist man in
München moderner als irgendwo: man hat bereits ein
Problem aufgegriffen, das logisch und folgerichtig in der
Entwicklung liegt, das für weitere Kreise erst in den fol-
genden Jahren aktuell werden wird: die erfolgreiche
Arbeit an der Synthese modernster, rationellster und
sachlichster technischer Konstruktion mit künstlerisch
reifer Formgebung. Im Villenba\i_ pflegt München das
Ideal des schlichten, kultivierten Heims, und der Erfolg
einer konsequenten Durcharbeitung des Problems sind
ganz reife, künstlerisch hochwertige Lösungen.
München, 1. Juni 1927
MITTEILUNGSBLATT
DER ARBEITSGEMEINSCHAFT
SÜDDEUTSCHER KUNSTGEWERBEVEREINE
Angeschlossene Vereine: BAYER. KUNSTGEWERBEVEREIN MÜNCHEN / BADISCHER KUNSTGEWERBE-
VEREIN KARLSRUHE / KUNSTGEWERBEVEREIN PFORZHEIM / KUNSTGEWERBEVEREIN DER PFALZ
KAISERSLAUTERN / KUNSTGEWERBEMUSEUM FÜR EDELMETALLINDUSTRIE, SCHWÄB. GMÜND
Ziele der heutigen Münchener Kunst
Von Dr. Hans Kiener
Hans Thoma hat einmal gesagt: „Die unklaren Ideen
über die einfachsten Dinge der bildenden Kunst sind
heute Gemeingut aller Gebildeten geworden." Das be-
steht auch leider heute noch zu Recht. Die Teilnahme
weiterer Kreise an den künstlerischen Problemen der
Gegenwart könnte sehr viel ersprießlicher sein, wenn
man einigermaßen wüßte, worauf es in der Kunst an-
kommt, wenn man wüßte und erlebt hätte, welche Pro-
bleme überhaupt künstlerisch möglich, fruchtbar und
folgenreich sind.
Es wäre viel gewonnen, wenn man sich klar würde,
wie sich geistige Impulse allmählich auf verschiedenen
Lebensgebieten auswirken. Wie die Lehre von der per-
sönlichen Autonomie verhängnisvoll die ethischen Grund-
lagen des Lebens ausgehöhlt und die Autorität unter-
graben hat, so hat sich der kantische Subjektivismus im
Umkreis des Künstlerischen ausgewirkt in einem ver-
hängnisvollen Mißverstehen des Wesens der „Originalität".
So gewiß es richtig ist, daß echte Kunst sich niemals
einer Formel aus zweiter Hand bedienen darf, daß jeder,
der etwas bedeuten will, sich selbst mit der Natur und
den Problemen seiner Kunst auseinandersetzen und so
seinen eigenen Stil finden muß, so gewiß besteht aber
die Originalität nicht darin, infolge mangelnder künst-
lerischer Kultur „Lösungen" zu „finden", die überhaupt
außerhalb aller Diskussion stehen.
In München steht seit dem 15. Jahrhundert die Kunst
im Vordergrunde des Interesses von Hof und Bürger-
schaft. Und als die instinktsichere Tradition abzureißen
drohte, im Beginn des 19. Jahrhunderts wurde Ludwig I.
ein Mäzen von großem Stil und von glücklicher Hand,
der für entscheidende Aufgaben Männer von wirklichem
Können und von künstlerischer Kultur berief (Cornelius,
Klenze). Die wahrhaft liberale Aufgeschlossenheit Mün-
chens gegenüber fremden Anregungen, soweit sie echt
waren und Größeres bedeutet haben, als man selbst
leisten konnte (Sustris, Candid, Barella, Cuvillie, Thor-
waldsen usw.) ist ein Ruhmestitel für München. Die
Kraft des eigenen Bodens erkennt man aber darin, daß
die aus der Fremde Berufenen eine eigene Münchner Note
ihres Schaffens entwickeln. Von der Michaelskirche im
16. Jahrhundert bis zur Pflege des Impressionismus, der
in München zuerst in Deutschland eine Stätte fand,
läßt sich das verfolgen.
Als ein notwendiges Ergebnis bringt diese alte künst-
lerische Kultur, die von Ludwig I. vor Aufgaben von
europäischem Maßstab gestellt, die bis zur Gegenwart
lebendig ist, es mit sich, daß sich die Stadt nicht irgend-
welchen albernen Mätzchen, die man ihr aufoktroyieren
will, in die Arme wirft. Die gleiche Stadt, die wert-
vollen Anregungen von außen immer offen stand, war,
weil eben in ihr zu viele leben, die Kultur haben, gegen
unkünstlerische Spielereien immer skeptisch; auch gegen
den Jugendstil war sie ablehnend und hat so verhütet,
daß Straßenbilder durch diese üble Mode verschandelt
wurden.
Die Stadt, in der Konrad Fiedler geschrieben, eine
Stadt, die für Marees ein wichtiger Durchgangspunkt
gewesen und die heute so glücklich ist, alle wichtigen
Werke von ihm zu haben, die Stadt, in der A. v. Hildebrand
sein Problem der Form geschrieben und damit Grund-
legendes künstlerischer Gestaltung für alle Zeiten gesagt
hat, wird notwendig ihre Aufgaben in der Gegenwart
darin sehen, moderne Aufgaben künstlerisch zu lösen.
Die Gründung der Sezession entsprang diesem Bedürfnis,
einmal grundsätzlich abzusehen vom Assoziativen, dem
Religiösen, Patriotischen und Novellistischen des Kunst-
werkes, das damals in den neunziger Jahren noch eine
größere Rolle gespielt hat, als wir uns heute eingestehen,
und vor allem das Künstlerische, das Formale zu pflegen.
Und als dann die Zeit war, wo man das Heil der Kunst
in einem „Los von der Natur" erblickte, als in der Folge
dieser Bewegung die „Neue Sezession" gegründet wurde,
war man sich sehr bald klar, bälder als irgendwo, daß
das souveräne Schalten mit den Naturformen nur Sinn
und Bedeutung hat, wenn es im Dienste einer höheren
künstlerischen Gesetzlichkeit geschieht.
Im Städtebau hat man in München mit Erfolg nach
1900 den öden Schematismus des quadratischen Straßen-
netzes verlassen und wieder versucht, den künstlerischen
Reiz des organisch gewachsenen Straßenzuges zu er-
reichen. Im Monumental- und Industriebau ist man in
München moderner als irgendwo: man hat bereits ein
Problem aufgegriffen, das logisch und folgerichtig in der
Entwicklung liegt, das für weitere Kreise erst in den fol-
genden Jahren aktuell werden wird: die erfolgreiche
Arbeit an der Synthese modernster, rationellster und
sachlichster technischer Konstruktion mit künstlerisch
reifer Formgebung. Im Villenba\i_ pflegt München das
Ideal des schlichten, kultivierten Heims, und der Erfolg
einer konsequenten Durcharbeitung des Problems sind
ganz reife, künstlerisch hochwertige Lösungen.