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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 1895

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Wigger, Hedwig: Eine Mutter
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https://doi.org/10.11588/diglit.32112#0384

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294

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u 11 c r.

Von Hedwig Wigger.

^onnige Märztage hatten Wiesen und Buschflächen rait duftigem Grün geputzt.
Auf dem nahrhaften Sandboden gepflegter Gärten sah man die langröhrigen
Blumen und die schmalen, linealen, in der Mitte mit gelbweissem Streif
gezeichneten Blätter hervorkommen. Violetter Frühiingssafran und Crocus. Aus
Buschgehegen grüssten Schneeglöckchen und Scilla. Baumweisslinge strichen über
sie hin, die kleinen bebenden weissen Flügel lebhaft hin- und herschlagend. Die
Sonnenkugel leuchtete mit frühiingsmiidem Schein über Gerechte und Ungerechte.

Frau Dörthe Köster blickte an den Märzblumen vorüber, vorüber an dem
Ginster im moosigen Untergrund des Waldes, mit Nichtachtung auf die zittern-
den Schmetterlinge, die detn Frühlingsgrün Vernichtung drohen. Ftir sie sind
Sonne und Regen, Wechsel der Jahreszeiten nichts anderes als eine naturgemässe
Folge des vorangegangenen, ihr Auge bleibt kalt wie ihr Herz und ihr Gemiith
beim Anblick dessen, was die empfindende Seele erfreut. Sie geht eilenden
Schrittes die ungepflasterte Dorfstrasse hinan. Kaum nimmt sie sich Zeit, dem
Gruss der Vorübergehenden dankend zu begegnen.

„Mutter, die Holsten war's, die uns grüsste,“ sagte das Mädchen neben ihr.

Die Frau sah kalt auf die Sprecherin.

„Du konntest ja danken.“

„Ich hab's gethan.“

„Na, was machst' denn erst vicl Wesens davon?“

Das junge schlanke Mädchen blickte von der Seite an der Mutter empor,
in deren Zügen sich keine Miene wandelte.

„Weisst Du, Mutter, dass Pastors Käthe barmheizige Schwester wird? Dorchen
von Pressentin kommt auch in die Stadt, weit weg.“

„So.“

„Sie sind auch gar nicht traurig —“

„So. Na, die Leute haben Haus und Hof und Geld, und wir — wir haben
nichts, garnichts, begreifst Du das immer noch nicht?“

„Mutter, Herr Pastor will ’was zugeben oder sogar das ganze vorschiessen,
wir können es ihm nach Jahr und Tag abbezahlen, wenn Du mich wolltest in
die Stadt geben —“

Die Frau stand still: „Fängst Du nun wieder davon an. Und ich — und
ich, was soll ich beginnen? sclaven von früh bis spät, und die paar Pfennige,
die ich erarbeite, gehören nicht einmal mir, sondern mit Zins und Zinseszins
jenen da drüben, die Dich was lernen lassen, damit Du später Deine Mutter
verachtest, weil sie arm und unwissend ist.“

Ein böser Blick fiel auf das Mädchen, das die Hände bittend gegen sie
crhob: „Sprich nicht so Mutter, das thut so weh, ich will Dir alles Gute ver-
gelten, alles, lass mich nur 'was lernen. Der Herr Pastor sagt, mit Kenntnissen
komme man durch die ganze Welt.“

Die Frau stutzte und stiess hervor: „Es geht nich, ne, es geht nich, Schulden
machen will ich nich, ich bin auch nich mehr die Jüngste, Du musst in'n Dienst,
musst Deine Mutter unterstützen, die für Dich gedarbt und gearbeitet hat bis heute.“

Stumm gingen sie neben einander weiter. Aus einiger Entfernung sahen
sie den bläulichen Rauch aus dem Schornstein des Tagelöhnerhauses sich rin-
geln, in dem sie ihre Stube hatten. Mit Geringschätzung blickte die Frau auf
das Haus: „Mit Rüben- und Dammarbeitern müssen wir die Wohnung theilen,
und Du — Du nichtsnutziges Ding willst in die Stadt, willst was lernen. Meine
ganze Schulzeit hat nicht halb so viel gekostet, wie Du in einem Jahre kostest
und bist undankbar.“

Dora hielt mühsam die aufsteigenden Thränen zurück. Ihr Hals war wie
zugeschnürt.

„Mutter, ich will arbeiten, damit es Dir wieder gut gehe.“

Die Frau war im Grunde ihres Herzens nicht böse. Als sie den alten
stämmigen Käthncr Köster heirathete, brachte sie zwar keine jungen Jahre,
wohl aber jungen Sinn und guten Willen in die Ehe. Der Mann hatte ziemlich
abgewirthschaftet, als er sich zum Heirathen cntschloss und schaute nicht mit
Unwillen auf Dörthe’s Sparkassenbuch, die grossen Säcke voll Daunen und die
eigengesponnenen Linnen. Dörtchen stach das hiibsche kleine Haus in die
Augen mit dem Gärtchen voll Blumen und der Wiese voll Gras.

Nichts weiter begehrte sie vom Leben, als das Stückchen Boden, wo Väter
und Urväter gelebt. gearbeitet, gesorgt.

Und dann kam alles anders. Schon nach wenigen Monaten durchschaute
sie die ganze Geschichte. Das Gras, das sie da schnitt, gehörte nicht inehr ihr,
das holte Bauer Vogt, dem es verpfändet war, das Obst holte der hinkende
Schneider, der hinter den halbblinden Scheiben sass und Röcke und Westen
ausbesserte und dabei redete wie ein Advokat . . . und das Häuschen war ver-
schuldet bis unter das Dach.

Dann trat etwas ganz Unerwartetes, Unfassbares an sie heran. Sie sollte noch
für ein Drittes sorgen, für ein Kind, das sie sich gar nicht in ihr Leben hinein-
dcnken konnte. Sie hasste dieses Kind lange vor seiner Geburt, es demüthigte

[Nachdruck verhotcn l

sie, in dem Kinde einen Zeugen ihrer Armuth, ihres grenzenlosen, häusl:cl lCl
Elends aufzuziehen. Der Mann starb, sie betrauerte ihn nicht, er hatte das GuU
in ihr getödtet. Aber sie arbeitete alles, was ihr unter die Hände kani un
sparte und geizte.

Das reiche, gebrochene Erdreich war ihr lieber als ihr eigen Fleisch und Bl llt

So nahmen sich fremde Leute des kleinen Mädchens an. Ihre klugen

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ihr nachdenkliches Wesen gefiel überall, auch hatte sie einen klaren Versta n
und ein gutes Gedächtniss: Der Lehrer beschäftigte sich gern mit ihr, er lehr 1
sie, was er selber wusste. Dann brachte er Dora zu Herrn Pastor Schliein an"
und nun begann ein Lernen voll Fröhlichkeit und Lust in dem grossen Stud"
zimmer, in der Lindenlaube des Gartens.

Wenn sie glückstrahlend über das, was sie unter Leitung des Predig 61^
gelernt, in der Mutter Stube trat, erfüllt von dem Schönen, das ihr Herz u11
ihren Sinn einnahm, ein freudig Wort an die arbeitsame Frau richten woH te
erlosch ihr Lächeln, erstarben ihre Gedanken bei dem harten Bliek ihrer Mut tel
„Das hat ja Ostern all' ein Ende, dann heisst's verdienen“, war ihre A nt
wort. „Ich hab’ meine Augen zugemacht bis jetzt, nu is aber genug.“

So waren die Stunden ,des zu Hause' eine Qual für Dora, und sie vernioc
der Mutter doch nicht zu trotzen

hte

Endlich war die ersehnte Zeit da, Dora war eingesegnet worden, hatte
der Seite der Mutter am Gründonnerstage das Abendmahl genommen, war



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nit

stillen Freitag und heute am Ostersonntag wieder in der Kirche gewesen. Du r
war nach Frau Köster’s Meinung allem Genüge gethan. Nun kam der Ernst d e"
Lebens und forderte gebieterisch seine Rechte.

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Frau Köster ging Nachmittags durch den gelben Märzsonnenschein u fl
Tarnowitzerhagen zum Schulzen und zugleich zum Müller, der ihr die kleiu
Ersparnisse verzinste. Leichter ward ihr Schritt, froher ihr Gang. Ja, W
Dörthe erst fort war, da konnte sie auch wieder froh sein, des Mädchens Aug c"
klagten sie immer an. Und der Müller freute sich regelmässig, wenn sie G e
brachte . . . „Na, Fru Köstern, so flitig, so sporsain, Sei tämen sick rein ni c^
soll all för de Lütt, all' för Düren, ja dci Kinner, sei maken uns veil Sorg Ul1
Mäuch, äwer ock veil Freu, wat wollen sei nicht. För weckern süllen wi arbei tctl
wenn nich för uns' Ivinner?“

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sie

„All för Düren“ . . . ihr Herz pochte. Ihre schwieligen Hände legten sfl
in einander. „Sie wird auch ’was davon haben, wenn sie erst Erfahrung
sieht sie’s schon ein. Ich habe mein ruhiges Alter am eigenen Herd, und
die schöne Mitgift für einen ordentlichen Mann.“

Diesen Trost gab sie ihrer Selbstsucht.

Schon gegen Mittag war es jenseits des Dammes von der Wiek her so bl fl"
heraufgekommen, als ob ein Sturm über die See zöge. Jetzt kam es iniU 1

düsterer, unheildrohender. Frau Köster hatte den Umweg über Everstorff U lC

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gescheut, wo sie noch Verwandte besuchte und wollte über den Damm U“

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Hause gehen. Da sah sie nun das drohende Unlieil. Die See, die hier
breite Bucht in’s Land hinein bildete, wogte mächtig heran und spülte mit ihu
salzigen Schaumköpfen gegen den schlecht gestützten Deich.

Drüben im Heimathsdorfe wusste man noch nichts, man feierte Ostern

fröhlichem Festschmause, und hier drohte der Untergang der Saaten, der Felfl c

der Wohnstätten. Sie eilte, von unsichtbarer Macht gehetzt, ins Dort. 1

stumpfen Mienen bis zum Gutshofe. Ihrem entsetzten Blick wich alles. » ^

Sturm kommt, der Everstorfl’er Deich hält nich aus, die Saaten werden vvC°]

geschwemmt — * so keuchte sie und lief, von Hunderten gefolgt, aufdemD 3"

der Bucht zu. Wie aus der Erde gestampft standen sie da, Unzählige, Mäu ,lC

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— Frauen und Kinder. Die Arbeiter rammten Pflöcke, Geröll gegen den alten D e|C
und stellten sich selbst auf, eine lebende Mauer. „Es zieht vorüber“ — ui e,n

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einer, — „so fix kümmt dat nich, das süht sick man so an“ ein anderer.

Köster stand auf der äussersten Spitze des Dammes. Sie schaute hinuntef
cjie Wogen, die mit dem dumpfen, donnerähnlichen Brausen langsam heran sl ^
wälzten, um zu verderben ... sie wandte den Blick auf die Felder. ^ e

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hier, hier auf diesem Fleck, bespült von der salzigen Fluth, ihr Haus st^ n .(

ihr Land läge, und wenn eine einzige Stunde alles vernichtete, was s,e " j
einent halben Menschenalter sich erdarbt hatte, was dann? Ein Schrei ent" ^
sich ihr, der gellend und unheimlich durch die richtende Gewalt der El elTie

verklang.

Sie trat behutsam zurück, wollte heim. Was konnte sie hier helfen-

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Männer standen Schulter an Schulter auf ihren Posten. Sterbegedanken z°® „

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durch die Seele der Frau. Da sah sie den gelbweissschimmernden Seevog^ ^

fliegen. Es war die Lachmöve, die pfeilschnell aus ihrem Genist im Steinbruch
alten Deiches aufschoss. Da

Sie kreisten neben-, über einander, schossen in das Wasser hinab. tallC
unter, um nach einiger Zeit an einer ferneren Stelle wieder an die Obe fl
zu kommen. So schnell war ihr Flug, dass man nur einen Punkt erK

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