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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 7.1908

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Nr. 8
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Fischer, Theodor: Gmindersdorf: Arbeitskolonie von Ulrich Gminder G. M. B. H. in Reutlingen
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https://doi.org/10.11588/diglit.23632#0421
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Jmoderne bauformen ;

L JMONAISHEFTE FÜR ARCH ITEKTljR

8



GMINDERSDORF

ARBEITERKOLONIE VON ULRICH GMINDER G. M. B. H. IN REUTLINGEN

Bei dem Bauauftrag hatte die Firma Ulrich Qminder G.m.b.H.

dem Architekten durch den Ankauf des Geländes an der
Betzingerstrasse die Aufgabe ausserordentlich erleichtert, in
sofern als sich dieses Terrain durch seine geneigte Lage gegen
Siidwesten vorzüglich für eine derartige Anlage eignet und
nicht nur in hygienischer und bautechnischer Hinsicht be-
friedigt, sondern auch in landschaftlicher Schönheit durch
den freien Blick auf die Albberge sich auszeichnet. Das Ge-
lände, das von seiner Basis am Betzingerweg bis zum oberen
nördlich gelegenen Rand terrassenförmig bis zu ungefähr
17 m Niveauunterschied ansteigt, veranlasste, die Strassen-
führungen, welche ebenfalls dem Architekten überlassen
blieben, in jener freien Weise den örtlichen Verhältnissen
anzupassen, welche heute glücklicherweise die schematische,
auf die gerade Linie begründete Art früherer Ortsanlagen
abgelöst hat. So ergab sich im wesentlichen ein System
von Strassen, welche sich parallel zur terrassenförmigen Er-
hebung und von solchen, welche senkrecht zu dieser Rich-
tung sich bewegen, aber alle in einem freien, leichtgeschwun-
genen Zug und die um einen Mittelpunkt, welcher ungefähr
die Stelle eines Marktplatzes einnimmt, sich gruppieren. Es
lag nahe, an diesem Marktplatz einige Gebäude von allge-
meiner Bedeutung zu konzentrieren, so die Geschäftshäuser
und die noch in den nächsten Jahren als Bekrönung der
ganzen Anlage zu errichtende Kinderschule, welche, schon
wesentlich erhöht, ihren Platz an der Nordseite des Marktes
bekommen soll. Benachbart zu ihr hat sich aus der Auf-
füllung eines zur Bebauung ungeeigneten Steinbruches un-
gezwungen ein Spielplatz ergeben. Die Breite der Strassen
wurde auf das möglichste Mindestmass eingeschränkt; immer-
hin musste auf höhere Anordnung das ganze Gebiet so dis-
poniert werden, dass es sich einer künftigen Stadterweiterung
von Reutlingen in wünschenswerter Weise anpassen kann. V
V Es liegt nahe, dass die Neigung des Architekten dahin geht,
das Bausystem einer derartigen Kolonie mehr nach der Seite
des geschlossenen Reihenbaues zu leiten, aber andererseits
waren die Wünsche sowohl der Bauherren als die mutmass-
lichen der Bewohner so ausgesprochen für das offene Bau-
system, also das Einzelhaus mit im Höchstfalle vier Woh-
nungen, dass versucht werden musste, mit diesem System
eine einigermassen ruhige Gesamtwirkung hervorzubringen.
Dies wurde zum Teil wenigstens erreicht dadurch, dass die
Bauten staffelförmig gegeneinander versetzt keine klaffenden
Durchblicke zulässen. Die durch die Bauherrn reichlich
angepflanzten Bäume werden bald das ihrige dazu tun, um
die Geschlossenheit der Wirkung noch zu vervollkommnen.
An einigen Stellen wurde aber doch der Versuch ge-
schlossener Reihenhäuser gemacht, so zum Beispiel an dem
mehrfach erwähnten Markt, wo auf der einen Seite ein

Arbeiterhaus als Gruppe von einer Länge von 36 m und auf
der andern Seite die Geschäftshäuser zusammenhängend in
einer Länge von ungefähr 25 m angeordnet worden sind.
Im letzten Baujahre endlich ist dnrch lose Zusammenhängung
zweier Häuser ein Versuch nach derselben Richtung ge-
macht worden. V

V Bei der Festlegung der Grundriss- und einzelner Haus-

typen stellte es sich bald heraus, dass nichts mehr zu ver-
meiden ist, als die Schaffung von verkleinerten bürgerlichen
Landhäusern. Das Arbeiterhaus darf mit dem Typus der
Villa so gut wie gar nichts gemein haben. Viel eher
liefert der uralte mittel- und süddeutsche Bauernhaus-
grundriss brauchbare Vorbilder, dessen Grundmotiv die
quadratische Eckwohnstube ist mit der daranstossenden
Küche und einer Kammer im Erdgeschoss. Erschwert wird
die Anordnung dieses einfachen Vorbildes durch die mo-
derne Gewöhnung, den Abort innerhalb des Hauses anzu-
bringen. Die Baugeschichte der Kolonie zeigt eine immer
fortschreitende Vereinfachung des Grundrisses und daraus
entstand die vielleicht im übrigen nicht angenehm auffallende
allzu grosse Verschiedenheit der einzelnen Häuser. Dass
die Geschäftshäuser abweichend von den übrigen Wohn-
haustypen sich mehr dem bürgerlichen Wohnhaus nähern,
liegt in der Natur der Sache. Ebenso wurde für das Wirts-
haus, welches aus praktischen Gründen an der vorbei-
führenden öffentlichen Strasse, also an der Peripherie der
Kolonie errichtet worden ist, ein abweichender Bautypus
angewendet. \/

V Baumaterialien und äussere Form waren bestimmt durch

die örtliche Tradition, wobei selbstverständlich nicht an die
Tradition der letzten zwanzig und dreissig Jahre, sondern
an eine gesiindere und geschmackvollere aus früheren Zeiten
anzuknüpfen war. Der den Dörfern der Umgebung eigen-
tümliche Fachwerkbau wurde nur in beschränktem Masse
verwendet, weil man die Unterhaltungskosten und die ge-
ringe Dichtigkeit der Wände etwas fürchtete. Da kein
billiges Bruchsteinmaterial in der Nähe zu haben ist, war
man im wesentlichen auf den Verputz-Backsteinbau ange-
wiesen. Der Verputz ist in den ersten Baujahren vielleicht
nicht ganz einwandfrei verwendet worden, da die handwerks-
mässige Tradition fast abgerissen war und die einfache Tech-
nik des rauhen wetterbeständigen Kalkputzes erst wieder
gelernt werden musste. Wie in dieser Technik, so ist auch
in manchen anderen bei der Ausfiihrungder neueren Häuser
ein entschiedener Fortschritt nic-ht zu verkennen und darin
scheint die Gewähr zu liegen, dass auch weiterhin kein
Stillstand, sondern ein stetes Verbessern und Ausarbeiten
zu erwarten sein wird. V

THEODOR FISCHER

Alle Rekurse gegen unbefugte Nachbildung der Bauentwürfe vorbehalten (Reichsgesetz vom 9. I. 1907).

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