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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 8.1909

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Nr. 3
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Vetterlein, Ernst Friedrich: Tradition oder Taktgefühl?
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https://doi.org/10.11588/diglit.24105#0143
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™ MODERNE BAUFORMEN
t J MONATSHEFTE FÜR ARCHITEKTUR
3

TRADITION ODER TAKTGEFÜHL?
VON PROFESSOR DR. ING. E. VETTERLEIN-DARMSTADT

In seinen wirkungsvollen „Kulturarbeiten“ hat
Schultze-Naumburg die Absicht verfolgt, „durch
Aufmerksammachen auf die guten Arbeiten bis zu
Mitte des 19. Jahrhunderts die Tradition, d. h. die
direkt fortgepflanzte Arbeitsüberlieferung wieder
anknüpfen zu helfen.“ Der Erfolg seiner Schriften
ist auf jeden Fall eine erneute Wertschätzung der
schlichten Kunst unsrer „Väter“, die so selbst-
verständlich war, dass man sie in dem „hohen“
Kunststreben ganz übersehen und vergessen hatte.
Wenn nun aber ausser diesem erfreulichen Erfolg
weiterhin gefordert wird, wir müssten den „Faden
der Ueberlieferung wieder aufnehmen“, an ihre
Werke „anknüpfen“, um wieder zu einer Kultur zu
kommen, so werden damit Schlagwörter in die Welt
geworfen, mit denen man gar vielen Unfug decken
kann. Wenn da ein geistig Armer die heute
schon umfangreiche Biedermeierliteratur als neues
Vorlagenwerk zum Kopieren heranzieht, so tut
er im Wesen nichts anderes, als wenn ein anderer
in deutscher Renaissance, Barock oder Rokoko
baut, d. h. einzelne Motive aus Vorlagenblättern
in seinen Entwurf hineinarbeitet. Aber jener
„knüpft an die Tradition da an, wo sie aufgehört
hat“. Diesen Erfolg hat der Verfasser der „Kultur-
arbeiten“ natürlich nicht erwartet oder gar er-
strebt. Aber im Hinblick auf die vielerorten be-
merkbare gedankenlose Biedermeierei ist er
nicht zu leugnen. Und man muss sagen, dass in
den Worten „Anknüpfung“ und „Ueberlieferung“
etwas sehr Zweideutiges und darum Gefährliches
steckt. V
V Bei dem Rufe nach einer solchen ist ganz un-
zweideutig nur der allgemeine Wunsch nach einer
Aenderung und Verbesserung unserer jetzigen Ver-
hältnisse. Wir möchten wieder eine „Kultur“
haben, wie frühere Generationen eine besassen!
Es fragt sich nur: wie soll sie aussehn und wie
gelangen wir zu einer solchen? Die Antwort wird
deutlicher, wenn wir erst fragen: warum haben wir
die „Kultur“ verloren? V

V Natürlich durch die Entwickelung der Verhält-
nisse! AnStelle der Bodenständigkeit veranlasste
der erleichterte Verkehr die Beweglichkeit, die
Entwickelung der Maschine ermöglichte die Mas-
senproduktion, die Entwickelung von Wissen-
schaft und Technik bescherte uns durch Bücher,
Zeitungen, Vorführungen, Kinematographen, Museen
usw. die Aufklärung. Die Entwickelung der In-
dustrie schafft Klassenunterschiede in Reiche und
Arme, ohne dass die Bildung entsprechend verteilt
wäre. So entstehen Banausen, Philister, Protzen,
Parvenüs, Abenteurer usw. Der Drang nach Be-
sitz erhitzt die Leidenschaften, reizt die Nerven
und begünstigt die Rücksichtslosigkeit, die sich als
Deckmantel den Begriff des „Individualismus“ von
der Philosophie geborgt hat. Und diese Nervosität
greift auch auf das Gebiet der früher als „un-
praktisch“ verschrieenen „Künstler“ über, die nun
oft lieber in „Sensation“ machen, anstatt mit Idealis-
mus zu verhungern. V
V Einer so aufgeregten, gärenden Masse wie sie
die moderne Gesellschaft darstellt, kann nur die
Naivität zurufen: „Kinder, beruhigt Euch doch!
Knüpft doch wieder da an, wo Goethe und Ge-
nossen aufgehört haben; es war doch so nett in
der guten alten Zeit!“ Der Ruf mag von manchen
gern gehört und befolgt werden (d. h. falls sie das
nötige Geld haben, unabhängig zu sein!). Die
Menge kann ihm nicht folgen, da sie es nicht in
der Hand hat, die Verhältnisse nach eigenen
Wünschen zu ändern. Man muss bei dem Wunsche
nach einer „Kultur“ dem Rechnung tragen, dass
sich die Grundlagen so verschoben haben, dass
das alte schöne Kleid nur noch da passt, wo sich
die Menschen und ihre Lebensverhältnisse gegen
früher nicht viel verändert haben, und das ist nicht
mehr oft der Fall! Für die Eisenbahnen, Trams,
Schwebe- und Hochbahnen, Warenhäuser, Tele-
phone, Automaten usw. ist kein altes Mäntelchen
vorhanden zum Umhängen, oder: wenn man eins
umhängt, passt es nicht. V

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