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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 8.1909

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Nr. 8
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Fayans, Stefan: Baukunst und Volk, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.24105#0462
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340

Baukunst und Volk

Klassizismus. Die Revolution berief sich auf das
klassische Altertum und ebenso nahm sich auch die
Kunst die Antike zum Vorbilde. V
V Die klassizistischen Reminiszenzen währten
aber nicht lange. Nach der politischen Erniedri-
gung und Erhebung Deutschlands, erwachten bei
dem Volke nationalistische Bestrebungen, die in
der Wiederbelebung der mittelalterlichen Traditionen
ihren prägnantesten Ausdruck fanden. Eine Periode
der romantischen Schwärmerei bemächtigte sich der
Baukunst, die ihr Heil in den neugotischen Gebil-
den zu finden glaubte. Der Schein war trügerisch
und die anfänglich mit Begeisterung aufgenommene
idealistische Richtung wurde bald fallen gelassen.
Der trockene Formalismus, die koloristische As-
kese verloren ihren Reiz, den sie ausschliesslich
der nationalen Gärung zu verdanken hatten. Die
darauffolgende Periode der wiederbelebten Renais-
sancekunst bot, vermöge der ihr eigenen reali-
stisch-malerischen Richtung, ein gewisses Aequiva-
lent, in bezug auf die freiere, künstlerische Auf-
fassung der vergangenen Stilepochen, ein Aequi-
valent, dessen Wirksamkeit erst durch die Schöp-
fungen eines Gottfried Semper offenbar wird.
Hatte Semper in seinen Architekturen auch nur
eine individuelle Auffassung an den Tag gelegt, be-
fand er sich als Baukünstler auch immer noch in
dem Banne des ein halb Jahrhundert währenden
Eklektizismus, so Hess er sich als Theoretiker
schon von weitaus moderneren Ideen leiten, in-
dem er mit seinem Mahnruf: „Zweckmässigkeit und
Materialgerechtigkeit“, weit seiner Zeit voraus-
geeilt war. V

V Und eine trostlose Zeit war es, die gegen die
Mitte des XIX. Jahrhunderts auf dem Gebiete der
Kunst hereinbrach. V
V Eine gewisse Denkfaulheit, ein Abhandensein
jedes konkreten Gefühls für die grossen sozialen
Aufgaben jener Zeit, charakterisiert diese Epoche —
eine Epoche der nur stilechten, kläglichen Nach-
ahmungen. Ein Kampf der Puristen und der Eklek-
tiker entbrannte auf der ganzen Linie. „Kopieren
bis zur Bewusstlosigkeit, die vergangenen Kunst-
epochen in ihrer unvergesslichen Frische und Blüte,
dabei völlig unverändert, der Neuzeit aufzudrängen“,
hiess es in dem einen Lager. „Mit Vorbehalt!
Kritik muss geübt werden!“ riefen die anderen aus.
Und trotzdem Männer von dem Range eines Ruskin,
eines William Morris es unternommen hatten, die
Haltlosigkeit dieser Theorie nachzuweisen und sie
in ihrer geisttötenden Entwicklung zu hemmen,
wussten die kämpfenden Parteien, jede für sich,
einen Teil der ziemlich passiv sich verhaltenden
Volksklassen für ihre Ideen zu gewinnen. V
V Nun hiess es, in der Vollendung der sinnlosen
Nachahmung wetteifern, die Vergangenheit herauf-
beschwören, mit der Stilechtheit die Leichtgläubigen
beglücken zu wollen. Ab und zu leuchtete zwar auf
dem Horizont, gleich einem Kometen, eine selbst-
ständige, künstlerische Kraft auf, die aus der rich-
tigen Erkenntnis des bestehenden Missverhältnisses
zwischen den neugestalteten sozialen Problemen
einerseits und den obwaltenden Kunstbegriffen
andererseits neue Kraft schöpfte. Doch waren dies
nur konvulsivische Zuckungen in der allgemeinen
Ohnmacht. (Fortsetzung folgt.)


V)

ELIEL SAARINEN-HELSINGEORS
Grundriss des Stadthauses für Willmannstrand
 
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