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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 15.1902

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Lilli Lehmann
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https://doi.org/10.11588/diglit.22227#0656

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MODERNE KUNST.

303

„Wenn ich Mylady recht verstanden habe, würden die angedeuteten Absichten
meine Klugheit, nicht meine Ehre in Frage stellen. Sie, meine Gnädige, trauen
mir keine Thorheiten zu, und dummen Menschen kann man seinen Verstand
niemals beweisen.“ Er schied aus dem Hause mit dem Entschluss, als
Sieger oder nie wieder dahin zurückzukehren. Ich muss Anna Fitzroy ent-
führen, sagte er sich, und zwar vor dem Zusammenbruch. Dann wird dieser
verhütet, denn die Sippe lässt den Gemahl Annas nicht fallen.

Glücklicherweise blieb dem Stutzer der Palast der Rothesais offen und be-
währte sich die schöne Mary als treue Verbündete. Eine Liebe mit Hinder-
nissen, eine Heirat auf ungewöhnlichem Wege setzten das romantisch gestimmte
Mädchen in Feuer und Flammen. Sie vermittelte die Briefe und mündlichen
Nachrichten, ermunterte den Freund in seinen kühnen Plänen und ermutigte
die Freundin.

Der Beau hatte ein halbes Dutzend Klubgenossen zu einem Frühstück in
seine Wohnung geladen. Der Prinzregent wohnte noch in Carltonhouse und
Carltonhouse war jetzt der Hof, also
blieb die „gute“ Gesellschaft trotz der
Sommerhitze noch beinahe vollzählig in
London zusammen. Doch nach Tickeils
Versicherung sollte in den nächsten
Tagen das Hoflager nach Brighton ver-
legt werden.

„Und wo werden -Ae den Sommer
verbringen?“ fragte einer den Wirt.

„Natürlich auch in Brighton,“ ant-
wortete dieser, und Alle lachten.

„Lady Cullen-Smith und Anna Fitzroy
haben ihre Abschiedsbesuche schon
hinter sich,“ sagte Tickell und sah dabei
mit listigen Aeuglein auf den Schäker.

„Sie reisen schon übermorgen mit Onkel
Erskine nach Schottland.“

„Nach Schottland und in Erskines
Gesellschaft — Glückliche Reise!“ sagte
Brummell gelassen. „Robinson, SirTickell
hat ein leeres Glas.“

„Ihr Beauvais ist in der That vor-
züglich.“

„Alles ist bei Brummeil vorzüglich,“
rief Cardcross. „Schade —„ Er brach ab.

„Schade, dass er nur noch ein
Dutzend Flaschen von dem alten Port-
wein hat; wie?!“

„Nein, dass ich nicht Townshends
Millionen besitze, ich würde Ihr Kost-
gänger werden, George.“

„Unser Cardcross macht sich aus
lauter Höflichkeit zum armen Schlucker,“
knurrte Tickell.

„Haben Sie Nachrichten von Byron?"
fragte einer den Lord Alvanley

„Seine letzten war ein kurzer Ab
schiedsgruss aus Calais.“

„Calais,“ wiederholte Cardcross und

Lilli Lehmann als „Fidelio“.

Nach einer Aufnahme des Kunstmalers Hans Volkmer, München.

sah den Hausherrn an. Wie der Zufall spielt! Vor der Tafel, unter vier Augen,
hatten die beiden Freunde ein Langes und Breites von Calais, dem Zufluchtsort
bankerotter Engländer, gesprochen.

„Nun, es kommen doch auch andre, als zahlungsmüde Briten nach Calais,“
fuhr Alvanley fort. „Allerdings nicht zu längerem Aufenthalt. Der Ort ist
greulich. Ich habe bei meiner ersten Kontinentreise unsern Konsul dort be-
sucht. Der arme Kerl hat einen Lungenfehler.“

„Möchten Sie Konsul in Calais sein, Mr. Brummell?“

„Möchten Sie lungenleidend sein, Mr. Tickell?“

„Lasst doch Calais!“ rief Cardcross ungeduldig. „Ist die neue Kaiserin,
Napoleons zweite hübsch?“ — — — — — —

Um Fünf — bälder, als sonst verabschiedeten sich die Gäste. Tickell, den
Hut in der Hand, blieb hinter den andren zurück. „Ein Wort unter vier Augen,“
begann er, und die ängstliche Spannung in den Zügen Brummells entging ihm
nicht. „Wales hat — weiss der Kuckuck, wie — erfahren, dass Sie vor Olims
Zeiten mal heimlich in Windsor gewesen sind — nach seiner Meinung, um den

Vater gegen den Sohn auszuspielen. Er
ist über den angeblichen Verrat wütend,
und Frau Fitzherbert, wie Sie sich denken
können, giesst Oel ins Feuer,. Als ehr-
licher Kerl erwähnt’ ich gestern, dass
ich heute Ihr Gast sei. Da kam ich
schön an. Einen undankbaren, doppel-
züngigen Schlemmer hat sie mich ge-
nannt. Und von ihrem Standpunkt hat
sie Recht. Meine Verpflichtungen gegen
Seine königliche Hoheit sind klar. Es
thut mir leid, aber — sich bei zwei feind-
lichen Brüdern zu mästen, ist nicht fein.
Es fällt da ein Wort und fällt dort ein
Wort; mein Gemüt leidet darunter und
die Verdauung. Wir wollen uns also
ohne Hass und Groll zum letzten Mal
die Hände schütteln — Ich verliere
viel —“ Er warf einen Blick auf die
Tafel. „Sie sind ein verflucht liebens-
würdiger Wrirt, und ein kleines Freundes-
mahl bei Ihnen •— das heisst — Wir
sind ja unter uns: Sagen Sie einem

alten Esskünstler die Wahrheit, das
heutige Frühstück war ausgezeichnet,
doch Ihr französischer Koch hat es nicht
bereitet!?“

„Warum soll ich Ihnen die Wahr-
heit verheimlichen? Monsieur Dubois hat
vor ungefähr acht Tagen mein Haus
verlassen. Er meint, unter der neuen
Kaiserin würden drüben anstatt der
Marschälle die Köche Gold und Lorbeeren
ernten.“

„Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Brum-
mell! Durch die Dinners Ihres Dubois
ging ein genialei Zug. Ich sagte mir
gleich bei den timbales ä la Cardinal:
Sehr gut, aber nicht von Dubois!“

[Fortsetzung folgt.]

Ifilli Jfehmcmn.

om künstlerischen Standpunkte aus, das ist nicht zu bezweifeln, sind Gast-
spiele nur dann gutzuheissen, wenn ein ganzes, in sich gefestigtes Ensemble
ein neues Werk, einen neuen Stil uns zu übermitteln kommt. Aber hier, wie
überall, gilt der Satz: keine Regel ohne Ausnahme. Am 24. April des Jahres
leuchtete ganz unerwartet ein glänzendes Meteor in das friedliche Halbdunkel
der Charlottenburger Opernbühne Lilli Lehmann lockte die Musikfreunde
Berlins in eine Fidelio-Aufführung, und wenige Tage später sang sie auch
die Norma. Das waren unvergessliche Abende, neben den Darbietungen der
italienischen Sembrich-Truppe die musikalischen Theaterereignisse der Saison.
Die grosse Sängerin hob sich nicht störend von ihrer Umgebung ab, es schien
vielmehr, als ob sie Allen von ihrem Glanze mitteilte.

Wenn das Gastspiel der Lehmann nichts von dem üblen Beigeschmack des
Startums hatte, so liegt das zunächst daran, dass ihre Kunst so garnicht auf das
Virtuosenhafte gestellt ist. Dann aber hat diese Frau auch die seltene Kraft,
den geistigen Gehalt eines Werkes — vorausgesetzt, dass es sich um tragende
Rollen wie die beiden genannten handelt — für sich allein zu erschöpfendem
Ausdruck zu bringen. Wir sehen uns nicht allein in der Gegenwart vergeblich
nach einem Seitenstück um; auch in die Vergangenheit müssen wir weit zurück-
blicken, um auf ähnliche Eindrücke zu treffen, namentlich wenn wir an die
üblichen Verkörperungen der Beethovenschen Idealgestalt denken.

[Nachdruck verboten ]

Sind solche Wirkungen nun lediglich der Ausfluss einer intensiv empfinden-
den Künstlerpersönlichkeit, oder können wir sie uns auch technisch erklären?
Soweit die Gesangskunst in Betracht kommt, kann man unbedingt der technischen
Meisterschaft eine weittragende Bedeutung einräumen. Lilli Lehmann ist ein
leuchtendes Beispiel dafür, und das giebt auch ihrem jüngsten Auftreten wieder,
gerade für unsere Zeit, etwas so ungemein Lehrreiches. Gewiss verleiht die
ernste Gesinnung, mit der sie sich in ihre Aufgaben vertieft, ihren Darbietungen
erst die Weihe; dass wir aber dessen recht inne werden, das verdanken wir
ihrem technischen Können. Gegenüber Allen, die den Gesang vernachlässigen,
um „dramatisch“ zu sein, ist sie gerade die dramatisch Wirkende, weil sie zu
singen versteht. Seit der Zeit, wo sie als jugendliche Kraft am Opernhause
sich alle Herzen durch ihre Anmut gewann, hat Lilli Lehmann beständig Fort-
schritte auf dieser Bahn gemacht und hat sich nicht durch Erfolge vom Weiter-
arbeiten abhalten lassen. Nun sie die höchste Meisterschaft erreicht, müssen
wir vor allem an ihr die Fähigkeit bewundern, das gesungene Wort zu beleben,
ohne je die Schönheitslinie im Ausdruck zu überschreiten oder die rein musi-
kalischen Anforderungen der theatralischen Wirkung zuliebe hintanzusetzen.
Darin und in der Treue gegen ihre Kunst, in der Energie, mit der sie das als
richtig Erkannte an sich selbst durchzusetzen weiss, kann sie einer'Generation
zum Vorbild dienen, über die sie als seltene Erscheinung hinausragt. L. S.

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