Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 28.1913-1914

DOI issue:
15. Heft
DOI article:
Anwand, Oskar: Unzüchtige Kunstwerke?
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31172#0441
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
MODERNE KUNST.

190

eine lebhafte Vorstellung machen. Die bekannte „Quelle“ des französischen
Romantikers Ingres wurde von den vier Gerichten Breslau, Dresden und zweimal
Berlin als nicht unzüchtig anerkannt, um vom fünften Gericht Cöln als unzüchtig
verurteilt zu werden, wobei die vorausgegangenen Urteile vollständig wirkungs-
los blieben.
Wie bereits betont, war die Billigkeit der Postkarten und damit ihre leichte
Erwerblichkeit auch seitens der unmündigen Jugend für die Gerichte der Stein
des Anstoßes, der immer wieder ins Feld der Verhandlung gerollt wurde. Dabei
hat der Justizminister in den Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses
bemerkt: wenn ein Ladeninhaber viele Reihen von Postkarten Zusammenhänge,
die nur Plastiken oder Gemälde nackter Körper enthalten — so suche er durch
andere Motive zu wirken als durch den Rhythmus der Kunstwerke. Es liegt uns
durchaus fern, das Berechtigte einer Gegenmeinung abzulehnen; man verhindere
also offensichtige Versuche, mit künstlerischen Reproduktionen unkünstlerische,
obszöne Wirkungen zu erzielen! Aber unmöglich kann man die einzelne, durch-
aus züchtige Reproduktion eines untadeligen Kunstwerks deshalb konfiszieren;
um so weniger, als der Künstler selbst eine Art des Aushängens, die ihn
gleichsam in eine pornographische Linie einreiht, entrüstet ablehnen würde. Was
aber das kurzsichtige Bestreben anlangt, der Jugend den Anblick jeglichen
nackten Körpers fernzuhalten, auch dessen, der durch die Kunst zur Harmonie
verklärt, veredelt und vergeistigt ist; so seien hier einige Sätze aus einer Rede
des Privatdozenten Dr. Popp hervorgehoben. Sie wurde in einer Versammlung
gehalten, die gerade von den Sittlichkeitsvereinen und den Vereinen zur Be-
kämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit am 8. September 1913 in München ver-
anstaltet worden war. Es heißt dort:
„Es gilt den mannhaften Kampf gegen alles Schamlose . . . Das beste
Mittel dagegen ist die richtige, sittliche Erziehung im Sinne einer gesunden
Gewöhnung an das Nackte und im Sinne einer gewissen Abhärtung . . . Das
zweite Mittel ist, das Volk und die Kinder in der Kunst zu erziehen, sie an edlen
Kunstwerken zu bilden, Vertrauen zur unverdorbenen Natur zu haben . . .“ Man
vergesse auch nicht, daß gerade die billige Postkarte vielen wenig Bemittelten
die Kenntnis von Kunstwerken verschafft, die ihnen sonst unerreichbar blieben.
Aber fast konnte es scheinen, als ob die Billigkeit der Postkarte nur als
Vorwand benutzt und ein Vorstoß auf viel breiterer Linie vorbereitet werde.
Denn in letzter Zeit sind wiederholt Reproduktionen von Kunstwerken beschlag-
nahmt worden, deren Wert 10 Mark, 15 Mark und weit mehr beträgt, so daß sie also
der Jugend kaum erreichbar waren. Damit nicht genug! In Anklageschriften
die sich gegen die Ausstellung und den Verkauf solcher Reproduktionen richten,
wird öfters nicht mehr und nicht weniger als ihr künstlerischer Wert in Bausch
und Bogen geleugnet. Es heißt etwa, das Künstlerische an ihnen trete erheblich
zurück hinter dem Anreiz zur Lüsternheit der aus der Darstellung hervorgehe
und offenbar auch bezweckt sei.


Unzüchtige Kunstwerke? Reinhold Begas: Der Raub der Sabinerin.
Verlag der Neuen Photographischen Gesellschaft A.-G. Steglitz.


Unzüchtige Kunstwerke? Reinhold Boeltzig: Fruchtsammlerin.
Verlag der Neuen Photographischen Gesellschaft A.-G. Steglitz.

Man stelle sich den Eindruck einer solchen furchtbaren Anschuldigung, die
einer schweren Beleidigung gleichkommt, auf eine vornehme Künstlerpersönlich-
keit vor. Und wie gesagt, es sind nicht nur die bedeutendsten, sondern auch die
am reinsten empfindenden unter ihnen, die von diesen Konfiskationen getroffen
werden. „Ehrt eure deutschen Meister“, ruft Richard Wagner. Müßten die Künstler
nicht umgekehrt durch solche Urteile an sich selbst, an ihrer Natur und an ihren
Instinkten irre werden, wenn sie nicht mit bittrem Lachen zur Tagesordnung
schritten? Schlimmer noch als ihnen ergeht es den Kunstverlegern und Kunst-
händlern, über denen man den Unzuchtsparagraphen aufgehängt hat. „Gefängnis
bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu tausend Mark, nebenbei Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter Polizeiaufsicht.“ Es braucht kaum
erwähnt zu werden, welche schwere Schädigung dem gesamten deutschen Kunst-
handel und den Künstlern aus der herrschenden Rechtsunsicherheit erwächst:
denn welcher Verleger wird sich leicht zur Herstellung wertvoller Reproduk-
tionen entschließen, wenn ihm harte materielle Einbuße durch die Konfiskation und
eventuell noch dazu Gefängnis droht. Darunter haben naturgemäß wiederum die
Künstler zu leiden. Für sie ist bereits die Unterdrückung der billigen Post-
karten, die ihren Namen und ihre Kunst in weiteren Kreisen bekannt gemacht
hätten, ein empfindlicher Verlust.
Aber hier handelt es sich nicht allein um Künstler und Kunsthändler,
sondern um unsere gesamte Kultur. Das Erbe Goethes und unserer Klassiker,
die uns das Auge für Alt-Hellas neu öffneten, die Natur weihten und heiligten,
steht in Frage. Gegen sie ertönt heute das Signal „Rückwärts, rückwärts, Don
Rodrigo.“ Wir sollen nicht mehr die Schönheit des Männer- und Frauenleibes
in unsere Augen aufnehmen, nicht mehr genießen, was die Natur so herrlich
erschaffen, und der Künstler zur Vollkommenheit erhöht hat. Ein Häuflein von
Männern, die das Volk bevormunden wollen, ist am Werk, eine Mauer aufzu-
richten. Zwar hat der Justizminister noch erklärt, daß er vor dem Originale
stets Halt machen werde. Aber wer bürgt lür seine Nachfolger, da der Appetit
beim Essen kommt; und wie steht es mit der Frage des Originals z. B. bei der
Radierung, Lithographie usw.! Überall die gleiche Unsicherheit! —
Sie wird auch durch den neuen Entwurf eines Gesetzes gegen die Gefähr-
dung der Jugend durch Zurschaustellung von Schriften, Abbildungen und Dar-
stellungen (dem der Bundesrat schon seine Zustimmung erteilt hat) nicht vermindert
sondern — soweit sich bisher beurteilen läßt — nur vermehrt. Wie es darin
heißt, will man die Jugend vor literarischem und bildnerischem Schunde schützen,
und wer würde dem nicht begeistert zustimmen! Tritt man aber etwas näher
an den Entwurf heran, so riecht er verdächtig nach einer neuen lex Ileintze.
Man denke z. B.: im Schaufenster einer Kunsthandlung ist eine kostbare Repro-
duktion irgend eines klassischen Gemäldes ausgestellt, an dem kein normal
empfindender Mensch, auch nicht die Jugend Anstoß nehmen kann, das aber
 
Annotationen