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Monatsberichte über Kunstwissenschaft und Kunsthandel — 2.1902

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Nr. 11
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Escherich, Mela: Die Darstellung des Uebernatürlichen in der Kunst
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430 —

Die Darstellung des Uebernatürlichen in der Kunst.

Von M. Escherich.

Man .ist gewohnt, ein Kunstwerk nicht nach
dem Motiv, sondern nach der Ausführung und Auf-
fassung seines Meisters zu fragen. Das Motiv an
sich ist etwas allgemeines, neutrales, ist der Mode
unterworilfen oder der Laune und dem Bedart des
Bestellers; wie das Motiv behandelt wird, das erst
ist das Originelle, das dem Künstler Eigentümliche
— ist Kunst.

Von kulturgeschichtlichem Wert dagegen ist es,

zu beobachten, wie gewisse Motive auftauchen, ver-
schwinden und wiederkehren, und noch mehr, wie
andere alle Epochen der Kunst durchlaufen, immer
wieder in neue Form, in neue Erscheinung treten,
der jeweiligen Zeitrichtung sich anpassen und somit
immer neues Interesse beanspruchen und finden.
Diese sind die Leitfäden, an denen sich die Forschung
in die Tiefe der Zeiten zurücktastet, sie sind selbst
ein Stück Kunst- und Kulturgeschichte, zum minde-
sten gehören sie mit zu dem Material, aus dem
sich das Mosaik der wissenschaftlichen Hypothesen
zusammensetzt. Ich möchte sie unsterbliche Motive
nennen.
Hierher gehört die Darstellung des Ueber-
natürlichen in der Kunst. Ein reiches, weites Ge-
biet, das alle Träume und Märchen, alle Wünsche
und Hoffnungen, alle sittlichen und religiösen Be-
griffe der Völker umfasst — mit einem Worte, das
Gebiet der Phantasie, der Poesie, der menschlichen
Sehnsucht überhaupt.

Uebernatürliches bildlich darstellen zu wollen,
ist ein Problem, dessen Lösung eine gewisse Naivi-
tät erlordert. Nirgends finden wir daher mystische
Motive so häufig, wie in der Renaissance, dem
Zeitalter impulsiv naiver Weltanschauung, nirgends
so vereinzelt wie im. Rokoko, wo an Stelle der
Naivität eine forcierte, kokette Naturschwärmerei tritt.

Nichts prägt so der Zeit seinen Stempel auf,
als die Art, wie sich die Menschen die Erscheinung
des Ueberirdischen und den Verkehr damit gedacht
haben. Eine dahingehende Betrachtung von Bild-
werken, die derartige Stoffe zum Gegenstand haben,
ist daher nicht minder interessant, als wenn wir an
der Hand alter Gemälde die wechselnden Moden,
Haartrachten, Sitten ‚oder religiösen Anschauungen
verilolgen. Kommen wir doch damit zum gleichen
Ziele; denn nicht minder drückt sich die Tendenz
einer Zeit in der Locke einer schönen Frau aus,
denn in der Poesie, der Architektur oder dem ge-
sellschaftlichen Leben und Treiben. Erst wenn wir
alle diese scheinbar einander so fern liegenden

Dinge zusammenfassen, erkennen wir, dass sie
auch thatsächlich zusammengehören, ja, dass eines
ohne das andere undenkbar ist. Die Details fügen
sich zu einem Ganzen, vor uns ersteht — das Bild
einer Zeit.

Doch bleiben wir bei dem Detail!

Es ist selbstverständlich, dass die Auffassung
des Uebernatürlichen im engsten Zusammenhang
mit den jeweilig religiösen Strömungen steht.
Ein vergleichender Blick auf die Gotik und die
Renaissance wird uns darüber Aufschluss geben.

Die Mystik dieser beiden Epochen ist eine
verschiedene, weil ihr verschiedene Tendenzen zu-
grunde liegen. Das religiöse Gefühl der Gotik ist
ein schwärmerisch ekstatisches; alle Empfindungen
vereinigen sich zu einem leidenschaftlichen Streben
nach fernen, geheimnisvollen Höhen. Der Zug,
der in der Architektur sich in dem Strebesystem
deutlich ausdrückt, geht durch die ganze Gotik.
Es ist ein sehnsuchtsvolles Erreichenwollen von
unerreichbaren Dingen. In dieser Sehnsucht ver-
zehrt sich das Körperliche. Man betrachte nur
diese Heiligengestalten auf den Gemälden der
kölnischen Schule. Da sind alle Glieder so zart,
dass man staunen muss, wie diese ätherischen
Geschöpfe die schweren Marterwerkzeuge und
Symbole, die ihnen in die Hände gegeben sind,
nur halten können. In dieser gesteigerten Ver-
geistigung des Irdischen liegt also ein gewisses
Entgegenkommen, ja schon iast ein direktes
Hinüberschreiten in das Gebiet der Mystik, des
Uebernatürlichen. Der Eintritt himmlischer Ge-
stalten ins .reale Leben behält daher den Charakter
des Aussergewöhnlichen bei, doch jene, die die
Erscheinung sehen, befinden sich selbst in welt-
entrückter Stimmung. Schauer der Verzückung
umhüllen sie und lösen ihren Blick für das Un-
fassbare. Wie die gotischen Spitztürme hoch in
den Himmel hinaufragen, so erhebt sich auch die
religiöse Phantasie hoch über die Alltäglichkeit.

Die Renaissance dagegen bewahrt zwischen
Endlichkeit und Unendlichkeit ein normales Gleich-
gewicht. Ihr klassisches Ichmenschentum schützt
sie vor krankhafter Ueberspanntheit. Sie sucht das
Göttliche im Menschen, nicht ausserhalb in un-
begrenzten Formen, dadurch bedingt wird der Gott
zum Menschen. Die menschlichen Proportionen
werden das Normalmass für das Gefüge der Welt.
Mit der Erkenntnis des Menschentums ist der erste
und grösste Schritt zur Erkenntnis der universalen
 
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