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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 3
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Weese-Bern, Artur: Burgunder Kirchen: (Cluny, Autun, Pontigny)
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0186
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Monatshefte für Kunstwissenschaft

einzige Überbleibsel der alten Kirche. Doch war er nidit ihr einziger Turm, auch nicht
der größte in der Gruppe von Türmen, die den alten Bau überragten. Er bekrönte den
einen Flügel des Querschiffes als flankierender Genosse eines polygonalen Vierungs-
turmes, der ebenso wie das ganze Mauerwerk der Schiffe und des Chores von der
französischen Revolution zerstört wurde. An kleinen Modellen, die im Musee Ochier
und in der Industrieschule gezeigt werden, kann man die ursprüngliche Anlage studieren.
Die Kirche hatte eine Vorhalle von fünf Achsen, eine fünfschiffige Kirchenhalle für die
Laien von elf Achsen, zwei Querschiffe und einen absidialen Chor mit Umgang und
Kapellenkranz. Sechs große Türme überragten den Kirchenkörper. Im Innern dej noch
erhaltenen Türme; staunt man über die gewaltige Höhe bis zum Gewölbe, zumal wenn
man sich gegenwärtig hält, daß dieser Turm nur ein untergeordneter in der malerischen
Turmgruppe war, die die Kirche bekrönte. Allbeherrschend erhob sie sich im Tal, schon
in der Ferne sichtbar, ein Architekturbild von wunderbarer Vielgestaltigkeit, die Silhouette
dabei streng, massig und monoton, gewaltig im Unterbau. Aber der Außenbau war
kahl und ohne Zierrat. Alle Pracht entfaltete erst das Innere. Wenn irgendwo die
mittelalterliche Beschränkung der Bauphantasie deutlich wird, dann ist es in der gewalt-
samen Folgerichtigkeit, mit der gegen Wunsch und Gefühl ruhiger Einheit ein logisches
Prinzip durchgeführt wird. Die logische Tendenz war darauf gerichtet, den Altar als
Mittelpunkt des Baues zu markieren. Aber man machte ihn nicht zum räumlichen
Mittelpunkt, sondern zum Fluchtpunkt der perspektivischen Linien. Die Tyrannei der
Logik dokumentiert sich rein äußerlich schon in dem Linienzwang der parallelen Schiffe,
in denen das Gefühl der Breite und Weiträumigkeit kaum aufkommen kann. Im
Grunde ist alle mittelalterliche Raumkunst engräumig. Nur die Tiefräumigkeit kennt
sie. Alles flieht in die Ferne des Presbyteriums, Blick, Gefühl, Ahnung, Sehnsucht.
Dort steht der Altar. Dort ist das Sanctissimum. Das Dogma ist es, das den Wunsch
harmonischer Ordnung im Keim erstickt; ein deutliches Widerspiel der Anschauung
überhaupt, deren der Mensch vorwärtsdrängender Übergangszeiten fähig war. Alles
auf einen Punkt zu beziehen und aus einem Grunde abzuleiten, war allerdings mittel-
alterlich, aber es war ein lediglich logisches System. Die Logik beherrscht auch die
Phantasie. Es fiel dem Architekten leicht, ihr alles zu opfern, was eine rein artistische
Lösung der Aufgabe gefordert hätte. Stärkere Willenskräfte trafen die Entscheidung,
über den Kopf des Künstlers hinweg. Er ist Organ, nicht Wille. Ihm diktieren das
Machtbewußtsein des Ordens und der Geist seiner Institutionen.
Ein wahrhaft großer Formensinn hat in dieser Kirche gewaltet, der in dem Eindruck
des unversehrten Hauptschiffes von überwältigender Macht gewesen sein muß. Doch
war zweifellos die architektonische Bedeutung des Baues nicht in der Höhenentwicklung
begründet, auch nicht in dem komplizierten Spiel der lastenden und tragenden Kräfte,
überhaupt nicht in den konstruktiven Elementen. Der Sinnenzwang und Stimmungs-
zauber des schönen Baugedankens lag vielmehr in der Steigerung der Mittel, durch
die die Phantasie aus der weltlichen Nüchternheit in den mystischen Bereich eines
Allerheiligsten geführt wurde. — Von auserwählten und geweihten Händen wurde das
kostbare Gut behütet. Die ungeheure Kluft zwischen Weltlichkeit und geistlicher
Lebensführung wurde hier überbrückt und dabei blieb der Ausblick in eine Ferne frei,
 
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