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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 3
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Weese-Bern, Artur: Burgunder Kirchen: (Cluny, Autun, Pontigny)
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0190
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Monatshefte für Kunstwissenschaft

Gerade diese Entwicklung abwechselnder, sich ergänzender und immer gesteigerter
Architekturbilder, gleichsam in der Richtung einer Prozession vom hellen Tageslicht
draußen bis zum dämmer-dunklen Schlußraum drinnen, diese epische Entfaltung immer
stärkerer und tieferer Phantasiereize bis zum mystischen Ausklang, diese künstlerische
Gliederung und rhythmisdie Spannung mit ihren triumphierenden Höhen und dem feier-
lichen Abschwellen — all das gehört zu den besonderen Erfindungen der Mönchskunst,
die notwendig den Unterschied zwischen der geweihten Korporation und dem Laientum
mit dem skrupellosen Nachdruck betonen mußte, den der Priesterstand gegenüber den
Weltkindern allerorten, aber selten mit dieser künstlerischen Potenz hervorgekehrt hat.
Wir können, obgleich Cluny zugrunde gegangen ist, darüber doch vollkommen klar
urteilen, da die von dem Hauptdenkmal abhängigen Kirchen von Paray-le-Monial, Autun
und Vezelay, in kleineren Verhältnissen denselben Grundgedanken in schöner Deutlichkeit
wiederholen. Auch in Clermont-Ferrand zeigt ihn Notre-Dame reich und prachtvoll.
In Cluny selbst ist heute davon nichts mehr zu sehen. Dort, wo im Mittelschiff
die langen Reihen der Mönche zum Altäre wallten, steht jetzt das Hotel.
Cluny ist Ruine. Dasselbe Volk, das diesen einzigen Riesenbau aufrichtete,
hat ihn in unfaßlicher Leidenschaft während der großen Revolution mit 75 Minen in
die Luft gesprengt. Unfaßlich in seiner Barbarei und doch klar in seiner blinden Wut
hat der Volksinstinkt den innersten Gedanken des Bauwerkes getroffen. Die Sichtbarkeit
der Macht, ihr Symbol wollte er vom Erdboden vertilgen, als schon die reale Macht
des Ordens längst vernichtet war. Er fühlte die Kunst nicht als Symbol sondern als
Tatsache, als Realität. Deshalb unterwühlte er die Mauern der alten Abtei und ließ die
ganze Herrlichkeit auffliegen.
Tagelang sind wir auf den umliegenden Höhen herumgestreift, an Schloß- und
Burgruinen vorüber, ganz hingegeben an den romantischen Zauber der mittelalterlichen
Klosterreste. Stadt und Abtei liegen still wie erstorben im Tal. Nur von Zeit zu Zeit
schmettern die hellen Trompetensignale der Kavalleristen durch die Luft, die die feurigen
Hengste des Gestütes auf den Straßen unter uralten Bäumen die Wonne der Bewegung
kosten lassen.
Was Cluny nicht mehr geben kann, den Gesamteindruck einer wohlerhaltenen
Kirche, das gibt Vezelay in hohem Maße. Die Kirche liegt auf der Höhe, umgeben
von weitvorgebauten remparts, so wie eine Burg, die ein Tal sperren soll. Sehr sorg-
sam und eingehend restauriert, nimmt der Bau, der in außergewöhnlich harmonischen
Verhältnissen durchgeführt ist, den Rang eines Nationalmonumentes ein. Gotisdie
Kathedralen sind immer als Außenbauten ruhmrednerisch, sie erwecken ungeheure Vor-
stellungen, sie ragen auf mit dem Monumentalanspruch von Pyramiden. Aber Vezelay
hat alle Schönheit nach innen gekehrt und überrascht dadurch unendlich viel mehr. Und
doch ist diese Schönheit hundert Jahre nach der Vollendung des Baues nicht mehr
verstanden worden, da die alles aus dem Felde schlagende Gotik gerade die tiefsten
und nachhaltigsten Wirkungen des älteren Stiles verkümmert hatte. Den wundervollen
Reiz der weiten Vorhallen hat sie ganz aufgegeben oder dodi nur notdürftig in den
drei Portiken der Fassadenportale anklingen lassen. Ihr Bedürfnis nach Licht und
 
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