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Monatshefte für Kunstwissenschaft — 1. Halbband, Heft 1 - 6.1908

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Heft 5
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Schmarsow, August: Über die karolingischen Wandmalereien zu Münster in Graubünden
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https://doi.org/10.11588/diglit.70400#0407
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Schmarsöw. Über die karoling. Wandmalereien zu Münster in Graubünden 399
standen. Aber wir müssen auch da, wie hier, den Grundstock der Kompositionen
sorgfältig von der Ausführung derselben in soundsovielster Wiederholung unter-
scheiden. Der Maler gehört zweifellos einer andern Schulung an als der oder
die Maler in Münster. Er arbeitet sichtlich mühsamer, spezialisiert Falten, Haare,
Gliedmaßen viel zeichnerischer, ohne zu fühlen, daß das Großdekorative darunter
leidet (vgl. Zemp S. 38). „In den Wundern Christi sind die Motive merkwürdig aus-
einander gezettelt; der unbenutzte Raum ist in jedem Bilde auffallend größer als [in
den Historien] zu Münster. In den Reichenauer Bildern, wie in andern Werken des
XI. Jahrhunderts, tritt ein anderer Menschentypus hervor. Gestalten mit kleinen Köpfen
und stark vorgereckten Hälsen mit übervollen Schultern und aufgeblähten Oberschenkeln,
die zu hoch am Körper hängen. Das hastige Gestikulieren, das weite Auseinander-
schlagen der Beine, der unsichere Stand, der zwischen Schwanken, Taumeln und
Schweben wechselt, das Flattern der Gewandsäume, das unmotivierte Aufwirbeln der
Stoffzipfel, diese Erscheinungen verbinden die Reichenauer Bilder ebenso stark mit der
Kunst des XI. Jahrhunderts, wie sie den Wandgemälden von Münster [ans dem
Leben Absaloms] fremd sind."
Zweifellos, das Alles verrät die tiefgreifende Veränderung des Wollens, wie
den dadurch erfolgten Verlust des Könnens; aber mir scheint, wir sollten die Symptome
einer zeitlichen Manieriertheit nicht zusammenwürfeln mit den konstitutiven Merkmalen
eines Stiles, dessen Entstehung innerlich motiviert sein dürfte.
In den Darstellungen der Bauten zeigen die Bilder der Reichenau, wie Zemp
bemerkt, ebenso eine zeichnerisch-manierierte Art. „Die Architekturen sind dünner ge-
baut, sauberer auseinandergehalten, weiter entfernt von realer Möglichkeit, als die
Bauten, die man auf den Absalombildern zu Münster sieht." Aber dürfen wir diese
überhaupt ohne weiteres mit ihnen vergleichen? Die Wunder Christi sind in der Fassung,
die wir nach Abzug aller Reichenauer Schulmanier aus den Wiederholungen in S. Georg
zu Oberzell herauszuschälen vermögen, jedenfalls nicht mehr naiv fabulierend vorge-
tragen, wie etwa die Geschichten Josefs in der Wiener Genesis, selbst nicht mehr so
anspruchslos und unbefangen wie in S. M. antiqua zu Rom. Sie gehören dem kirchlichen
Lehrstoff an und sind dogmatisch durchgeprüft, gewiß noch stärker, als es mit den
Jugendgeschichten Christi von der Verkündigung bis zur Flucht nach Ägypten geschah;
sie sind hier unverkennbar bewußt sakralen Charakters.1) Die Beschränkung auf ver-
hältnismäßig wenige Personen, die Auseinanderhaltung der Einzelfiguren, besonders der
Hauptträger der Handlung, oder der kleinen Gruppen, wie der Begleiter hier, der Zeugen
und Zuschauer da, erklärt sich aus der durchdachten Arbeit, aus der Aufgabe deutlicher
Erzählung eines höchst bedeutsamen Inhalts. Wenn die Verzettelung der Motive über
den Bildraum für die Manier des XI. Jahrhunderts bezeichnend ist, so braucht sie doch
nicht ein Ausfluß sinnloser Mode zu sein. Sie hängt mit der Bedeutsamkeit und der
mimischen Steigerung des Ausdrucks aufs innigste zusammen, und andrerseits mit dem
Überwiegen der geistigen Aufnahme des Erzählten. Sie entspricht dem Ablesen der
9 Vgl. Repertorium für Kunstwissenschaft XXVII, 1904 p. 261. „Die Kompositionsgesetze
der Reichenauer Wandgemälde". Die Architekturen sind nur Kulissenstücke.
 
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